Überleben und Weiterleben
Ein Blick auf die Situation der Überlebenden des vom IS an den Jesid*innen begangenen Völkermords
Vor 6 Jahren attackierte der IS die jesidischen Gemeinden in Sindschar im Nordirak. IS Kämpfer töteten jesidische Männer und Jungen, verkauften Frauen und junge Mädchen in die sexuelle Sklaverei und zerstörten Heiligtümer und Tempel. Der an den Jesid*innen verübte Genozid war 2014 in aller Munde, schockiert verfolgte die Weltöffentlichkeit das Schicksal jesidischer Frauen und Männer. Doch wie geht es den Überlebenden heute? Was sind ihre Wünsche und Hoffnungen für die Zukunft und was ist geschehen, um die begangenen Verbrechen zu bestrafen, um Gerechtigkeit walten zu lassen?
von Olivia Müller-Elmau

©Sergi Cámara
In einer studentischen Gesprächsrunde treffe ich Farida Khalaf, Überlebende des Genozids und Autorin des Buchs „Das Mädchen, das den IS besiegte“ und Natia Navrouzov, jesidische Anwältin und Leiterin des Dokumentationsprojekts der NGO Yazda.
„We counted the days as years, because each day equals a year in the hands of ISIS“, so spricht Farida über die Zeit ihrer Gefangenschaft bei Kämpfern des IS. Sie selbst entkommt aus der Gefangenschaft nach 4 Monaten, doch über dreitausend jesidische Frauen und Kinder befinden sich noch immer in den Händen von IS Kämpfern. Farida Khalafs Stimme wird leise, als sie darüber spricht, dass sie an die Frauen denkt, die noch so viel länger sexuelle und körperliche Gewalt erdulden müssen als sie es damals musste. Farida lebt heute in Deutschland und ist 23 Jahre alt. Wenn sie von ihren Erfahrungen spricht, wirkt sie aber viel älter. Der Umgang mit den Erinnerungen an ihre Zeit der Gefangenschaft sei schwierig, sagt sie. Normalerweise stürben Menschen einmal, aber das Erzählen ihrer Geschichte komme immer einem Sterben gleich. Wenn sie nicht mehr kann, erinnere sie sich an die Worte ihres Vaters, der ihr sagt, dass er an ihre Stärke glaubt. Daraus ziehe sie die Kraft, sich gegen die begangene sexuelle Gewalt an den jesidischen Frauen zu engagieren – in der von ihr gegründeten Organisation „Farida Global Organization“ und unter anderem auch in der NGO „Yazda“. Letztere macht es sich zur Aufgabe, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf den Genozid gegen die Jesid*innen zu lenken, diesen zu dokumentieren, Hilfe für Überlebende zu leisten und sich für die juristischen Aufarbeitung der Verbrechen einzusetzen.
Strafrechtliche Verfolgung des Genozids
Die Leiden vieler jesidischer Frauen sind nicht beendet, „der Genozid ist immer noch fortdauernd“, klärt auch Natia Navrouzov auf, die sich als Anwältin und Leiterin des Dokumentationsprojekts seit 2018 ebenfalls bei „Yazda“ engagiert. Sie macht klar, dass auch die Aufarbeitung des Genozids für Überlebende erst begonnen hat. Die Verantwortlichen zu bestrafen und Gerechtigkeit zu erfahren, sei ein dringendes Bedürfnis der Überlebenden, neben der Suche nach Vermissten und der Dokumentation der Massengräber. Große Hoffnungen liegen so in den Prozessen, in denen heimkehrende IS-Kämpfer*innen zur Verantwortung gezogen werden, wie etwa in den 2019 in Deutschland geführten Prozessen gegen Jennifer W. vor dem Oberlandesgericht München, die als erste heimkehrende IS-Anhängerin in Deutschland angeklagt wurde. Die internationale und juristische Anerkennung der begangenen Verbrechen als Völkermord ist für die Opfer dabei aus mehreren Gründen von Bedeutung. Zum einen besteht eine besondere Pflicht für Staaten, die Verantwortlichen für Völkermorde zu bestrafen und weitere zu verhindern. Zum anderen hat die Anerkennung aber auch einen großen Symbolwert für die Jesid*innen. Denn indem man den Überlebenden zugesteht, dass sie Opfer des „Verbrechens der Verbrechen“ geworden sind, nimmt man sie in ihrem erlebten Unrecht ernst und zollt ihnen Respekt. In der Umsetzung ist es aber schwierig, die Täter der begangenen Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen, vor allem für ihre Beteiligung am Völkermord: Da der Irak das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs nicht anerkennt, werden die Taten von IS-Kämpfern nur in Zusammenhang mit Antiterrorismus Gesetzen verfolgt. So klagen derzeit nur nationale Gerichte heimkehrender Kämpfer diese für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord an. Auch muss für eine Verurteilung für Völkermord eine spezielle Intention vor Gericht nachgewiesen werden können, eine Gruppe ganz oder teilweise vernichten zu wollen. Nationalen Gerichten aber fehlen trotz der Unterstützung von NGOs oft Beweise dafür. Auch wenn ein rechtliches Vorgehen schwierig bleibt, gibt es doch auch Erfolgsbeispiele. So wurde 2020 beispielsweise der irakische Mann Jennifer W.s, Taha A.-J., der ein fünfjähriges jesidisches Mädchen hatte verdursten lassen, unter anderem auch für Völkermord vor dem Oberlandesgericht Frankfurt angeklagt - und das obwohl er nicht die deutsche Nationalität hat. Dies ist möglich, weil Deutschland das sogenannte Universalitätsprinzip anwendet, wonach Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen oder Genozid strafrechtlich verfolgt werden können, auch wenn die Verbrechen nicht im Inland oder von Deutschen begangen wurden.
Schwieriger Neuanfang
Farida äußert auch die große Hoffnung, dass Prozesse gegen IS-Kämpfer*innen, die die Aufmerksamkeit auf den begangenen Völkermord lenken, zukünftige Verbrechen an den jesidischen Gemeinden verhindern können. Sie selbst würde gerne irgendwann nach Sindschar zurückkehren, um in ihrer Gemeinde wieder ihre Traditionen zu leben und religiöse Feste zu feiern, sagt sie. Aktuell aber sei es dort zu unsicher. Denn die Lage in Sindschar ist kompliziert: Die Dörfer der jesidischen Gemeinden liegen in einem umstrittenen Teil des Nordirak, auf den sowohl die irakische Zentralregierung als auch die kurdische Regionalverwaltung Anspruch erheben. Auch fehlt es in der Region an medizinischer Versorgung, dem Zugang zu Bildung, ökonomischen Möglichkeiten für Heimgekehrte und psychologischer Betreuung. Oft waren es die muslimische Nachbarn der Jesid*innen in Sindschar, die immer noch in der Region leben, die dem IS dabei halfen, sie gefangenzunehmen und jesidische Frauen als unverheiratet zu identifizieren. Wieder zu vertrauen sei schwierig, sagt Farida. Die Umstände in Sindschar erklären auch, warum bislang wenige Gemeinden zurückgekehrt sind und ihre Dörfer wieder aufgebaut haben und sie werfen die Frage danach auf, ob ein Neuanfang für die jesidischen Gemeinden in Sindschar überhaupt möglich sein kann. Nach Natia Navrouzov ist es wichtig, dass eine NGO, wie „Yazda“ in dieser Frage neutral bleibe, um auf die individuellen Bedürfnisse von Überlebenden eingehen zu können und ihnen auf die gewünschte Weise helfen zu können. Nichtsdestoweniger ist die Erhaltung der Kultur und der Wiederaufbau der Gemeinden in Sindschar ein großes Ziel „Yazdas“, da es auch dem Wunsch vieler Überlebender entspricht, mit ihrer Heimat verbunden zu bleiben. „Yazda“ stellt so etwa medizinische Versorgung und hilft Heimgekehrten dabei, sich auch ökonomisch eine Zukunft aufzubauen. Doch von einer neuen Normalität für die jesidischen Gemeinden kann auch sechs Jahre nach dem Völkermord noch nicht gesprochen werden. Von den ehemals 400,000 in Sindschar lebenden Jesid*innen wohnen heute immer noch 250,000 in provisorischen Camps im Irak oder in Syrien. Vielen bleibt der Weg ins ferner Ausland versperrt, weil sie bei ihrer Flucht vor dem IS ihre Ausweispapiere zurücklassen mussten, ohne die sie nicht fort können. Andere leben heute wie Farida weit von ihrer Heimat entfernt, in der Diaspora.
Die Verurteilung der IS-Kämpfer*innen, die den Genozid an den Jesid*innen begangen haben, ist kein Allheilmittel gegen alle Probleme, mit denen sich Überlebende konfrontiert sehen - aber sie ist entscheidend, weil sie Gerechtigkeit walten lässt.