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Abschied von Roe v. Wade: Wie Amerikas Konservative den Supreme Court eroberten

Am 24.6.2022 verkündete der Supreme Court seine Entscheidung im Fall Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization. Wie es der Leak eines Entwurfs der Mehrheitsmeinung Anfang Mai bereits angekündigt hatte, wich das Gericht darin von seiner berühmten Rechtsprechung in Roe v. Wade ab und beendete so den verfassungsrechtlichen Schutz des Rechts auf Abtreibung. Für Amerikas Konservative bedeutet dies den Sieg in einem jahrzehntelangen Kampf. Schon seit Roe 1973 entschieden wurde, war die Rücknahme dieser Rechtsprechung eine zentrale Forderung der politischen Rechten. Wie kommt es also, dass sie mit dieser Forderung jetzt, nach fast 50 Jahren, Erfolg hat? Zur Beantwortung dieser Frage lohnt es sich, einen Blick auf die jüngere Geschichte des Supreme Courts zu werfen.


von Simon Willaschek


Erin Schaff/ The New York Times via AP, Pool, File


Progressive Republikaner*innen?


Obwohl von republikanischen Präsidenten ernannte Richter*innen am Supreme Court seit 1969 durchgängig in der Mehrheit waren, entschied das Gericht in vielen politisch umstrittenen Fragen lange nicht verlässlich im Sinne der Konservativen. Denn die amerikanische Verfassung weist das Recht, Richter*innen der Bundesgerichte zu ernennen, zwar dem*der Präsident*in zu, jede Ernennung bedarf aber der Zustimmung des Senats. Um sich parteiübergreifende Mehrheiten im Senat zu sichern, nominierten republikanische Präsidenten daher oft politisch gemäßigte Kandidat*innen, wie Sandra Day O’Connor oder Anthony Kennedy, die dann als swing vote zwischen den ideologischen Lagern standen. Andere, wie John Paul Stevens oder David Souter, erwiesen sich im Laufe ihrer Amtszeit sogar als dezidiert liberal. So kam es auch, dass der vom erzkonservativen Richard Nixon nominierte Richter Harry Blackmun die Mehrheitsmeinung in Roe vs. Wade verfasste und dass es mit O’Connor, Kennedy und Souter drei von Republikanern ernannte Richter*innen waren, die Roe 1992 in Planned Parenthood v. Casey durch einen Kompromiss vor der Aufhebung bewahrten.


Viele Konservative nahmen das verhältnismäßig liberale Abstimmungsverhalten „ihrer“ Richter*innen mit Enttäuschung, wenn nicht sogar als Verrat war. In der republikanischen Partei wurde während der Neunziger und Zweitausender Jahre daher die Forderung nach einer Besetzung des Supreme Court und der anderen Bundesgerichte mit verlässlich konservativen Richter*innen laut. „No more Souters!“ lautete der Schlachtruf. Diese neue Linie spiegelte sich zum Beispiel in George W. Bushs Nominierung von Samuel Alito wider, der 2005 als ausgewiesen rechter Kandidat ohne nennenswerte demokratische Unterstützung ernannt wurde und jetzt die Mehrheitsmeinung in Dobbs verfasst hat. Unter Mitch McConnell, seit 2007 Anführer der Republikaner*innen im Senat, rückte der Plan einer ideologischen Umgestaltung der Bundesgerichtsbarkeit dann in den Mittelpunkt konservativer Politik. McConnells erklärtes Ziel war es, „to do everything we can, for as long as we can, to transform the federal judiciary…”.


Der Mitch McConnell-Plan


McConnells Strategie bestand im Wesentlichen darin, die Ernennung von Richter*innen während Obamas Amtszeit so weit wie möglich zu verhindern, um dann möglichst viele konservative Kandidat*innen zu bestätigen, sobald die Präsidentschaft wieder in republikanische Hand fiel. Nachdem die Republikaner*innen 2014 die Mehrheit im Senat errungen, konnte Obama dementsprechend kaum noch Richter*innen ernennen. McConnells Strategie der Blockade war so erfolgreich, dass bei Trumps Amtsantritt im Januar 2017 über 100 Stellen an den Bundesgerichten (von ca. 870) unbesetzt waren. Die von Trump nominierten Kandidat*innen wurden dann vom republikanisch dominierten Senat durchgewunken und die frei gebliebenen oder später frei gewordenen Stellen so mit konservativen Richter*innen besetzt.


Besonders deutlich wurde diese Strategie im Streit um die Nachfolge Antonin Scalias. Nachdem Scalia, der als intellektueller Anführer des konservativen Flügels des Supreme Court galt, im Februar 2016 verstarb, nominierte Obama den heutigen Attorney General Merrick Garland als dessen Nachfolger. Mit der fadenscheinigen Begründung, dass Scalias Stelle im Jahr der Präsidentschaftswahl freigeworden sei und ihre Besetzung daher dem*der neu zu wählenden Präsident*in zustehe, blockierten die Republikaner*innen im Senat Garlands Bestätigung. Von McConnell angetrieben und auf Linie gehalten, verhinderten sie bis zum Ende der Wahlperiode, dass es überhaupt zu einer Abstimmung über die Personalie kam. Nach Trumps Wahlsieg wurde dann dessen Kandidat Neil Gorsuch zu Scalias Nachfolger ernannt. Um Gorsuchs Bestätigung durchzusetzen, ließ McConnell sogar die Verfahrensregeln des Senats ändern, die bislang eine Mehrheit von 60 Prozent für die Ansetzung einer Abstimmung über die Bestätigung von Richter*innen des Supreme Court verlangt hatten. Ihr Verhalten gegenüber Garlands Nominierung hielt die Republikaner*innen natürlich nicht davon ab, die christlich-fundamentalistische Richterin Amy Coney Barrett zu bestätigen, nachdem mit dem Tod Ruth Bader Ginsburgs 2020 erneut Supreme Court-Stelle in einem Wahljahr freigeworden war.


Im Ergebnis konnten die Republikaner*innen so einen disproportionalen Einfluss auf die Zusammensetzung der Bundesgerichte nehmen. Als besonders wirkungsvoll erwies sich ihre Strategie in Bezug auf die beiden höchsten Instanzen der amerikanischen Bundesgerichtsbarkeit, die Courts of Appeals und den Supreme Court. So konnte Trump während seiner vierjährigen Amtszeit fast genauso viele Richter*innen an die Courts of Appeals entsenden, wie Obama in den acht Jahren zuvor. Mit Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett hat Trump sogar mehr Richter*innen des Supreme Court ernannt als irgendein Präsident seit Ronald Reagan - und das ohne wiedergewählt worden zu sein.


Auf der Suche nach den verlässlichen Konservativen


Aber entscheidend für den Erfolg, mit dem die Republikaner*innen ihren Plan einer ideologischen Umgestaltung der Bundesgerichtsbarkeit vorantrieben, war nicht allein die Anzahl der Ernennungen. Denn wie die Geschichte gezeigt hat, ist die Tatsache, dass ein*e Richter*in auf dem republikanischen Ticket ins Amt kommt, keine Garantie dafür, dass er*sie dieses auch im Sinne der Konservativen ausübt. Um ihr Versprechen von „no more Souters“ einzulösen, war es für die Republikaner*innen also wichtig, ideologisch verlässliche Kandidat*innen zu identifizieren.


Dazu diente ihnen zum einen die juristische Philosophie des Originalism. Anhänger*innen dieser Theorie gehen (jedenfalls vorgeblich) davon aus, dass die Verfassung so zu auszulegen sei, wie sie zur Zeit ihrer Entstehung verstanden wurde. Da die US-Verfassung nach dem Verständnis ihrer Autoren eine Oligarchie weißer, wohlhabender Männer errichtete, eignet sich das Bekenntnis zum Originalism gut als Identifikationsmerkmal rechter Jurist*innen.


Zum anderen spielte die Federalist Society eine prominente Rolle bei der Besetzung der Gerichte mit ideologisch gefestigten Konservativen. Die Federalist Society ist eine mit vielen Millionen Dollar aus anonymen Spenden ausgestattete Vereinigung konservativer Jurist*innen, die insbesondere der Vernetzung und Förderung rechter Studierender an den Law Schools dient. Sie stellt republikanischen Präsident*innen eine große Gruppe gut ausgebildeter Kandidat*innen für Richterämter zur Verfügung, deren konservative Gesinnung durch ihre Mitgliedschaft verbürgt wird. In jüngerer Zeit nahm die Federalist Society zudem zunehmend aktiven Einfluss auf die Nominierungspolitik der Republikaner*innen. So wirkte sie daran mit, Listen geeigneter, gesichert konservativer Kandidat*innen aufzustellen, aus denen Trump dann seine Nominierungen auswählte, und bereitete ihre Protegés sogar gezielt auf die Anhörungen in Senat vor. Es ist daher keine Überraschung, dass derzeit alle sechs republikanisch nominierten Richter*innen am Supreme Court ehemalige oder aktive Mitglieder der Federalist Society sind.


Fazit


Der Widerstand gegen progressive Entscheidungen des Supreme Court war stets ein wesentlicher Treiber der konservativen Bewegung im Allgemeinen und ihrer Justizpolitik im Besonderen. Die Ablehnung von Roe v. Wade stand sogar so stark im Mittelpunkt republikanischer Agitation, dass oft theoretisiert wurde, konservative Richter*innen könnten davor zurückschrecken, Roe endgültig aufzugeben, um ihrer Partei nicht ein wichtiges Mittel zur Mobilisierung ihrer Basis zu nehmen. Dass der Supreme Court jetzt trotzdem diesen Schritt gegangen ist, zeigt daher auch, wie sicher sich die Rechten am obersten Gericht ihrer Macht sind. Und dies nicht zu Unrecht. Denn durch ihre gezielte Einflussnahme auf die Zusammensetzung des Supreme Court haben die Republikaner*innen dort eine deutliche Mehrheit von sechs konservativen zu nur drei liberalen Richtern*innen geschaffen. Damit kontrollieren die Konservativen selbst dann die Mehrheit der Stimmen am Gericht, wenn sich eine*r von ihnen im Einzelfall der liberalen Seite anschließen sollte. Und da mit Gorsuch, Kavanaugh und Barrett gezielt jüngere Richter*innen ausgewählt wurden, die, auf Lebenszeit ernannt, lange Amtszeiten zu erwarten haben, wird dies wohl auch auf absehbare Zeit so bleiben. Das Ende von Roe v. Wade ist also erst der Anfang.

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