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„Blessed be the fruit“

Warum man in Texas wieder in die Vergangenheit reisen kann und welche

Rolle das neue Abtreibungsgesetz dabei spielt.


von Leah Nowak


© Lea Donner


„Sie waren noch nie schwanger!“ lautet die scharfe Antwort von Jen Psaki, Sprecherin des Weißen Hauses, bei einer Pressekonferenz in Washington. Die dazugehörige Frage stammt von einem älteren Journalisten, der etwas abseits steht. Er möchte wissen, wie Joe Biden die Befürwortung von Abtreibungen mit seinem Glauben vereinen könne. Die viel entscheidendere Frage lautet jedoch: Haben Sie „The Handmaid’s Tale“gesehen?


Worum es geht


Am 1. September 2021 ist in Texas ein neues Gesetz in Kraft getreten: „The Heartbeat Act“. Bereits im Mai 2021 hatte Gouverneur Greg Abbot seine Unterschrift unter das erste verheerende Schreiben gesetzt und damit den Weg geebnet - den Weg zurück in eine Vergangenheit, in welcher Frauen der Zugang zu sicheren Abtreibungen nahezu unmöglich war. Anfang September entschied dann der oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten mit einer Mehrheit von fünf zu vier Stimmen für den Erlass des Gesetzes. Ein Ergebnis, das grundlegend kaum verwunderlich ist, hatte doch Donald Trump noch im Jahr 2020 für eine fast ausschließlich christlich-konservative Besetzung des Gerichtsvorstandes gesorgt; darunter auch Richter Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett, welche die im September 2020 verstorbene liberale Richterin und Verfechterin von Frauenrechten, Ruth Bader Ginsburg, ersetzte. Was genau steht also drin, im neuen Abtreibungsgesetz? Der „Heartbeat Act“ erlaubt Schwangerschaftsabbrüche nur bis zur etwa sechsten Woche. Dieser Zeitpunkt verleiht dem Gesetz seinen Namen, denn nach ungefähr 42 Tagen ist der Herzschlag des Fötus hörbar. Unbeachtet bleibt, dass ein Großteil der Frauen in diesem Stadium nicht einmal um die eigene Schwangerschaft weiß. 85 Prozent der Schwangerschaftsabbrüche finden zu einem späteren Zeitpunkt statt. Doch das ist nebensächlich - sobald ein Herzschlag zu hören ist, tönt dieser nun lauter als Selbstbestimmung und Autonomie der werdenden Mutter. Für eigene Entscheidungen ist es zu spät. Um dem Ganzen einen weiteren mittelalterlichen Twist zu verleihen, soll selbst bei Inzest und Vergewaltigung eine Abtreibung nach der sechsten Wochen nicht mehr möglich sein. Leben um jeden Preis also. Welchen Preis eine traumatisierte Schwangere zahlt, die gegen Ihren Willen ein Kind austrägt, steht nicht zur Debatte. Weshalb auch, das Kind kann ja nichts dafür - und die Mutter?


Jagd mit Belohnung


Neu ist auch der Vollzug des Gesetzes. Während dieser zuvor in der Hand der Behörden lag, dürfen Bürgerinnen und Bürger die Verfolgung der Gesetzesbrüchigen nun selbst übernehmen und diese eigenständig verklagen. Dazu zählen neben Ärztinnen und Anwälten alle weiteren Helfenden, die einen Schwangerschaftsabbruch ermöglichen oder erleichtern. Gar Taxifahrer*innen, welche Schwangere zu einem Abtreibungstermin befördern, müssen mit Konsequenzen rechnen. Ähnlich der US-amerikanischen Serie „The Handmaid’s Tale“, die in einem dystopischen, christlich-konservativen Gottesstaat spielt, welcher Frauen lediglich den Nutzen der Reproduktionsfähigkeit zuerkennt, erwartet die treuen Gesetzeshüter*innen des 28. Bundesstaates nun eine Belohnung von bis zu 10.000 Dollar, die von den Verurteilten selbst zu zahlen ist. Hetzjagden der alten Art in den Straßen von Texas, während auf den Kalenderblättern das Jahr 2021 prangt.


Ein Rückblick


Zudem war Texas zu Beginn der 1970er Jahre schon weiter. Mit der Grundsatzentscheidung „Roe vs. Wade’“ entschied der oberste Gerichtshof am 22. Januar 1973 mit sieben zu zwei Stimmen, dass Schwangerschaftsabbrüche bis zum Moment der Lebensfähigkeit des Fötus möglich seien sollten. Dieser Zeitpunkt entspricht heute etwa der 24. Schwangerschaftswoche. Hintergrund der Entscheidung war die Notlage der 22-jährigen Jane Roe (eigentlich McCorvey) aus Texas, die bereits zwei Kinder zur Adoption freigegeben hatte und nun erneut schwanger war; aus Sorge, aufgrund ihrer sozial und wirtschaftlich schwachen Lebenslage nicht für das Kind sorgen zu können, wünschte sie eine Abtreibung. Da Schwangerschaftsabbrüche zu dieser Zeit jedoch lediglich bei einer gesundheitlichen Gefahr für die werdende Mutter möglich waren, zog sie gegen den damaligen Bezirksstaatsanwalt von Dallas County, Henry Wade, vor Gericht. Sie gewann zu Teilen in zweiter Instanz und die Entscheidung wirkte als Wegweiser für die bisherige US-Rechtsprechung zum Thema Abtreibung. Ein Großteil der damals bestehenden Gesetze zur Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen verstieß, so das Gerichtsurteil, gegen das Recht auf Privatsphäre und die garantierte Rechtssicherheit des 14. Verfassungszusatzes. Bis heute gilt dieser Präzedenzfall als eine der kontroversesten Entscheidungen in der Geschichte der amerikanischen Rechtsprechung. Der jährliche „March for Life“ in Washington mit bis zu 100.000 Teilnehmenden ist einer von vielen Protesten, welche sich gegen das Urteil richten. Während Abtreibungsgegner noch immer darauf hoffen, der Supreme Court könnte die 46 Jahre zurückliegende Entscheidung doch noch kippen, brachte Präsident Biden jüngst unmissverständlich sein Entsetzen zum Ausdruck: Er beschrieb die neue Regelung in Texas als „bizarr“ und versicherte, die Bundesregierung werde alles tun, um Frauen weiterhin einen sicheren Zugang zu Abtreibungen gewähren zu können.


US-Justizministerium schreitet ein


Und womöglich wird es bei einer bloßen Reise in die Vergangenheit bleiben, einem schockierenden Kurztrip mit anschließendem Expressticket zurück ins 21. Jahrhundert. Denn nachdem sich zunächst zahlreiche Bürgerrechtler*innen und Kliniken erfolglos mit einem Eilantrag an den obersten Gerichtshof der USA gewandt hatten, rückt nun das Justizministerium nach: mit einer Klage gegen den Bundesstaat Texas. Gerade unter Berücksichtigung der Entscheidung „Roe vs. Wade“ sei der „Heartbeat Act“ eindeutig verfassungswidrig, so US-Justizminister Merrick Garland. Zudem hielt das US-Justizministerium ein Bundesgericht in Texas an, die Durchsetzung des Gesetzes zu verhindern. In seinem Dringlichkeitsantrag formulierte das Ministerium, das Gesetz würde Frauen ihre verfassungsmäßigen Rechte verwehren. Solche bestünden insbesondere darin, eine eigene endgültige Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch vor Lebensfähigkeit des Fötus treffen zu können.


Ob Meilensteine wie „Roe vs. Wade“ und der Schutz fundamentaler Selbstbestimmungsrechte den aus vergangenen Zeiten anrollenden Wellen christlich-konservativer Vorstellungen standhalten werden, bleibt abzuwarten. Bereits im Herbst 2021 steht ein weiterer Beschluss des Supreme Court zu den neuen Abtreibungsgesetzen des Bundesstaates Mississippi an. Das jetzige Einschreiten des US-Justizministeriums könnte die Entscheidung in eine liberale Richtung lenken und die Schatten der „Handmaid’s Tale“-Saga doch wieder hinter die Mauern der Fiktion verbannen.




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