Bijan Moini: „Hoffnung habe ich immer“
Bijan Moini ist Jurist und Schriftsteller mit einem großen Interesse am Aufstieg Chinas. Neben seiner Tätigkeit bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) setzt er sich kritisch mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinander. Sein zweites Buch mit dem Titel „Rettet die Freiheit“ erschien 2020 und klärt auf: über die Gefahren der Digitalisierung und die eigene Verantwortlichkeit, sich ein Stück Autonomie zu bewahren.
Um das Thema Freiheit soll es auch in unserem Interview gehen. In einem kleinen Café in Berlin Mitte sprechen wir über die Macht und Machenschaften der Volksrepublik China, das „Sicherheitsgesetz für Hongkong“ als neusten Auswuchs der gierigen Hand einer immer größer werdenden Weltmacht - und auch ein klein wenig über Hoffnung.
von Leah Nowak

© Thomas Friedrich Schäfer
Rechtverblüffend: Im Juni 2020 wurde in Hongkong ein neues Sicherheitsgesetz erlassen. Der Erlass des Gesetzes sorgte weltweit für Schlagzeilen - was ist so besonders daran?
Bijan Moini: Das Gesetz bietet durch sehr weit gefasste Tatbestände faktische Durchgriffsmöglichkeiten von Peking nach Hongkong. Vorher gab es ein relativ stabiles Justizsystem, das die Hongkonger Bürger:innen gegenüber den autoritären Anwüchsen der Kommunistischen Partei abgeschirmt hat. Je weicher Tatbestände jedoch formuliert sind, desto mehr Spielraum bietet das der Exekutive auf der einen und einer hörigen Judikative auf der anderen Seite, den Willen der Oberen in Peking durchzusetzen. Das ist der fundamentale Wechsel. Der Rechtsstaat ist hinüber.
Rechtverblüffend: Das Gesetz bestraft jegliches Vorgehen, das „die nationale Sicherheit gefährden“ könnte. Ein solch allgemeiner Wortlaut sorgt vermutlich für eine massive Unsicherheit im Volk?
Bijan Moini: Unsicherheit mindestens und vor allen Dingen ist die Auslegung nach der festlandchinesischen Jurisprudenz relativ eindeutig: Alles, was gegen die Kommunistische Partei gerichtet ist, gefährdet per se die nationale Sicherheit. Nach unserem Verständnis ist das Ganze also sehr weich formuliert, aber es ist vor allem ein klares Instrument gegen die politische Opposition.
Rechtverblüffend: Es ist bereits zu mehreren Verhaftungen gekommen: Wie gefährlich ist Widerstand für die Bevölkerung?
Bijan Moini: Die Hongkonger Bürger:innen waren wahnsinnig kreativ, was die Umgehung der Überwachungssysteme, die es auch schon vorher gab, anbelangt. Indem sie sich über neue Messenger-Dienste organisiert haben, die durch die Kommunistische Partei nicht filtriert werden konnten. Sie haben also eben keine öffentliche Plattformen wie Facebook genutzt, sondern sich peer to peer vernetzt und konnten damit riesige Demonstrationszüge organisieren. Solche Methoden sind kurzfristig wahrscheinlich immer noch im begrenzten Rahmen möglich, aber das Risiko für jeden Einzelnen hat sich nach Erlass des Gesetzes und dem demonstrierten Willen, es anzuwenden, gewaltig erhöht. Es kann sich inzwischen jede und jeder ausrechnen, welche Folgen es haben kann, beispielsweise demonstrieren zu gehen. Der Schutz, den die Masse geboten hat, wurde durch dieses Gesetz aufgebrochen, weil es gezielt Aktivist:innen herauspicken kann. Natürlich werden dabei diejenigen auswählt, die die größte Zugkraft haben und an denen ein Exempel statuiert werden kann.
„Die Hongkonger Bürger:innen waren wahnsinnig kreativ, was die Umgehung der Überwachungssysteme […] anbelangt“
Rechtverblüffend: Wie kann es sein, dass ein Land auf der einen Seite so unglaublich fortschrittlich ist, insbesondere in technologischer Hinsicht, und gleichzeitig Freiheits- und Menschenrechte mit Füßen tritt? Besteht dort womöglich ein Zusammenhang? Bedingt das eine das andere?
Bijan Moini: Das ist eine sehr spannende Frage. Die chinesischen Küstenstädte sind technologisch unglaublich weit fortgeschritten. Besonders Shanghai ist ungemein futuristisch. Die beschriebene Diskrepanz zwischen Fortschritt und Stillstand wird hier am besten deutlich. Ich glaube nicht, dass technischer Fortschritt rechtsstaatlichen Stillstand bedingt. Es wird einfach viel mit Geld geklotzt. Auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten stehen heute hochmoderne, gigantische Bauten. Bei uns waren es früher Paläste und Kirchen, die sich die Obrigkeit „gegönnt“ hat. Aber dass auch nicht umgekehrt der technische Fortschritt die Geltung der Menschenrechte bedingt, ist eine wichtige Feststellung. Dieser Erkenntnis haben sich viele lange Zeit verweigert, die davon ausgingen, dass mit dem Fortschritt in China auch der Anspruch auf Teilhabe derjenigen, die diesen Fortschritt bewirkt haben, wachsen werde. Grade dieses Verlangen nach Mitbestimmung hat sich jedoch nicht eingestellt. Stattdessen hat die Kommunistische Partei ihre neuen technologischen Mittel genutzt, um den eigenen Status zu festigen.
Rechtverblüffend: Sie sagten bereits, dass Ihnen die gesamte Thematik sehr nahe geht - woher rührt dieser persönliche Bezug?
Bijan Moini: Ich war vor langer Zeit für ein Praktikum in Singapur und habe von dort aus einen Wochenendausflug nach Hongkong gemacht. Ich war sofort begeistert von der Stadt. Bei einem zweiten Besuch war ich dann drei Monate lang bei einer großen Wirtschaftskanzlei, um dort einen Teil meines Referendariats zu absolvieren. Was mich an Hongkong so fasziniert, ist das Aufeinandertreffen von Ost und West. Stadt und Menschen sind total chinesisch, viele sprechen kein Englisch, aber man findet dennoch sehr leicht Zugang zu der Stadt - und damit auch zu einem Teil Asiens. Auf der anderen Seite ist Hongkong mittlerweile auch wieder offiziell ein Teil Chinas. Und die Volksrepublik China interessiert mich bereits seit meinem Studium, weil schon damals längst klar war, dass es die große Macht des neuen Zeitalters werden wird. Wie sich China entwickelt, wird ungemeine Auswirkungen darauf haben, wie wir leben; wie unsere Kinder und Enkel leben werden. Aufgrund dieser Kombination war und ist Hongkong für mich wahnsinnig faszinierend. Mit den Protesten 2014 hat sich das Ganze dann noch zugespitzt: Hunderttausende Menschen gingen immer und immer wieder auf die Straße und protestierten. Eine so lebendige Demokratie kennen wir hierzulande gar nicht mehr.
Rechtverblüffend: Hongkong ist geprägt vom Kampf um Autonomie: Ein Land, zwei Systeme ermöglichte der Stadt ein gewisses Maß an Unabhängigkeit. Kann dieses Prinzip unter dem neuen Gesetz überhaupt noch bestehen?
Bijan Moini: Ein Land, zwei Systeme ist ein netter Slogan, aber er entspricht sicher nicht mehr der Wirklichkeit. Zwei Systeme impliziert ja ein Stück weit Autonomie des einen gegenüber dem anderen. Diese Autonomie gab es aber seit der Machtübernahme Chinas über Hongkong im Jahr 1997 nie so wirklich. Sie wurde zwar versprochen - beispielsweise sollte es irgendwann demokratische Wahlen geben und dementsprechend auch autonome Gesetze, die sich allein aus dem Hongkonger Volk legitimieren. Dazu kam es jedoch nie. Spätestens seit es das neue Sicherheitsgesetz gibt, ist es mit Hongkongs Unabhängigkeit vorbei. Es ist nun vollzogen, was wahrscheinlich von Anfang an der Plan der Kommunistischen Partei war - sich diesen Fremdkörper, mit allem was dazu gehört, über kurz oder lang einzuverleiben.
„Der Rechtsstaat ist hinüber“
Rechtverblüffend: In einem Essay für den Deutschlandfunk Kultur beschrieben Sie kürzlich, wie weit Chinas Macht inzwischen reicht. Das Land scheint in seinem Vorgehen in wirtschaftlicher und weltpolitischer Hinsicht ungemein erfolgreich: Selbst Walt Disney lässt das Drehbuch zu dem Film Mulan von der chinesischen Regierung absegnen - wieso greift niemand ein?
Bijan Moini: Auf diese Frage nähert man sich am besten über drei Stufen. Zunächst waren wir lange Zeit zu arrogant, um anzuerkennen, dass ein autokratischer Staat wie China Erfolg haben könnte. Wir glaubten, es gäbe nur unseren, den demokratischen Weg zu Wohlstand und Macht. Nachdem wir diese Arroganz abgelegt haben, waren wir lange zu ignorant, um zu erkennen, dass der Prozess der Öffnung des Landes sich längst umgekehrt hat. Und zuletzt waren wir vor allem zu gierig, um daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Das gesamte polit-wirtschaftliche System der westlichen Staaten basiert auf dem Prinzip der Marktwirtschaft und die belohnt unternehmerischen Gewinn. Und diesen Gewinn konnte und kann man in China in Mengen realisieren. Das setzt aus einer gesamtpolitischen Perspektive jedoch völlige Fehlanreize. Denn dadurch werden Abhängigkeiten geschaffen, die sich wiederum krass auf andere Politikfelder auswirken. Und eigentlich können wir von China nicht abhängig sein wollen - insbesondere, weil Chinas Einfluss immer näher an uns heranrücken wird. Ich finde, wir hätten uns schon längst überlegen müssen, wie wir mit dieser als extrem empfundenen wirtschaftlichen Abhängigkeit, die keinesfalls alternativlos ist, umgehen wollen. Es ist auch nicht so, als würden wir jetzt untergehen, wenn wir unser Geschäft nicht noch weiter vertiefen, sondern stattdessen mal stagnieren und schauen, wohin China sich entwickelt. Denn dann hätten wir wiederum den Vorteil gegenüber China, wenn wir nicht jedem Begehren nachgeben. Aber dazu gibt es wohl offenbar noch nicht genug Bereitschaft.
Arroganz, Ignoranz und Gier
Rechtverblüffend: Wie könnte sich Deutschland oder auch die EU engagieren? Womit müsste man beginnen?
Bijan Moini: Das Wichtigste ist, sich zu koordinieren. Also es muss überhaupt eine europäische Antwort auf China geben. Und das funktioniert dann nicht, wenn es innerhalb der EU einzelne Länder gibt, die Geldgeschenke - insbesondere in Form von Krediten - aus China annehmen und die deshalb andere Interessen gegenüber China haben. Und es funktioniert auch nicht, solange beispielsweise Deutschland eine besondere Beziehung zu China pflegt, weil wir dort sehr viel mehr investiert haben als manch andere große europäische Staaten. Das ist die Grundbedingung und dafür braucht es überhaupt erstmal den Konsens, dass die chinesische Regierung unser Lebensmodell und das, was uns wertvoll ist, gefährdet. Sie ist eine Gefahr, weil wir uns selbst den Mund verbieten. Aber auch, weil die Kommunistische Partei immer mehr Länder pusht und aufbaut, die wie sie selbst konträr zu einem freiheitlichen Menschenbild stehen. Diesen Konsens zu schaffen, ist daher die erste und wichtigste Aufgabe. Und dann Verbündete zu finden, die das ähnlich sehen. Die USA und die anderen angelsächsischen Staaten, wie Australien und Großbritannien, haben sich da im Prinzip auf eine auch schon militärisch fundierte Gegenwehr verständigt - mit Kooperations- und Waffenlieferungsverträgen. Ich weiß nicht, ob es solcher Mittel bedarf. Es reicht ja im Grunde schon, dass man seine Wirtschaftspolitik koordiniert und beispielsweise auch auf einzelne Angriffe Chinas einheitlich reagiert, etwa mit Sanktionen. Insbesondere auch, wenn kleinere EU-Staaten betroffen sind, weil sie zum Beispiel in Taiwan Geschäfte machen und dann von der chinesischen Regierung gemaßregelt werden. Auch muss es zu dem Genozid in Xinjiang gegenüber den Uiguren eine eindeutige, klare Antwort geben. Und zwar nicht nur rhetorisch sondern auch mit Konsequenzen, indem man zum Beispiel sagt: Wir investieren nicht mehr in China, bis sich die Situation in Xinjiang verbessert hat. Es steht einfach in keinem Verhältnis, dass wir unsere wirtschaftlichen Interessen über das Leid von Millionen Angehörigen einer ethnischen Minderheit stellen.
„Das wichtigste ist, sich zu koordinieren“
Rechtverblüffend: Es scheint, das nationale Sicherheitsgesetz ist nur ein weiterer Etappensieg eines autoritären Staates, der nicht aufhören will, seine Macht zu vergrößern. Besteht Hoffnung, dass sich das noch ändern wird?
Bijan Moini: Hoffnung habe ich immer. Aber der Zug ist mittelfristig abgefahren. Diese Hoffnung, dass wir uns, sofern wir uns ökonomisch angleichen, auch politisch angleichen werden, gab es eine lange Zeit - aber es hat sich einfach nicht realisiert. Das Modell ist zu erfolgreich, die chinesische Regierung weiß ihre Instrumente zu gut einzusetzen, als dass man davon ausgehen könnte, dass sich die politische Situation dort bessern wird. Zumal sich mit Xi Jinping ein sehr autokratischer Staatsführer auf Lebenszeit in seinem Amt einzurichten scheint. Deshalb liegt meine größere Hoffnung darauf, dass wir eine gute Antwort finden, der vor allem die Einsicht vorausgeht, dass dort überhaupt ein Problem besteht und nicht nur ein Markt gesehen wird, den es zu erobern gilt. Wir haben jetzt eine neue Bundesregierung, und dort hört man auch schon Stimmen, wie die von Annalena Baerbock, die ziemlich klar sagen, dass wir eine andere Politik gegenüber China brauchen und dass Menschenrechte einen höheren Stellenwert haben müssen. In vieler Menschen Ohren klingt das immer gleich so hochtrabend, wie ein Luxusproblem, aber es geht wirklich auch um uns - nicht nur darum, die Menschen in China zu schützen. Das wäre per se schon ein gutes Argument, die Politik zu ändern und obendrauf kommt noch die Herausforderung, wie wir unsere freiheitliche demokratische Grundordnung aufrecht erhalten können, wenn wir immer stärker in die Abhängigkeit eines Staates geraten, der ein Interesse daran hat, eben diese Grundordnung zu untergraben. So wie es Putins Russland schon seit zehn Jahren versucht, wird es China mit sehr viel mehr Möglichkeiten in absehbarer Zeit auch tun. Darauf müssen wir uns vorbereiten - und ich glaube, das werden wir auch.