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China vs. USA: Cyberpolitik auf der globalen Bühne

Vor wenigen Wochen fand die World Internet Conference in Wuzhen, China, unter dem Hauptthema „Digital Civilization“ statt. Ungefähr 2000 Repräsentanten aus mehr als 80 Ländern und circa 300 Firmen tauschten sich über das Internet und dessen jüngste Errungenschaften, den digitalen Markt und das Konzept von Gemeinschaft im Cyberspace aus. Der dort vorgestellte „China internet development report“ dokumentiert eine jährliche Wachstumsrate des digitalen Wirtschaftssektors Chinas von circa 9 Prozent. Damit steigt dessen Anteil am Bruttoinlandsprodukt auf knapp 38 Prozent beziehungsweise 6 Billionen US-Dollar an. Im November und Dezember werden weitere Cyberpolitik-Konferenzen stattfinden - wie zum Beispiel das Internet Governance Forum der UN oder die International Conference on Cyber Law, Cyber Crime & Cybersecurity.


Aber was genau meint „Cyberpolitik“ eigentlich? Worum geht es bei diesen Konferenzen genau? Und warum gibt es eine chinesische Konferenz in China und ein Forum der UN in überwiegend „westlichen“ Ländern?


von Jonathan Mehlfeldt


© Pixabay.

Bevor wir über Cyberrecht sprechen, müssen wir uns Recht und Rechtskultur zuwenden. Die meisten unserer Leser werden schon mehr oder weniger vertraut mit der in der westlichen Welt zurzeit vorherrschenden Rechtskultur sein, dem US-amerikanischen Common Law System. Immerhin teilen wir selbst einen erheblichen Teil der zugrundeliegenden Werte des US-amerikanischen Systems. Wir sollten daher zunächst den Hintergrund des dem amerikanischen System mitunter als Widerpart gegenübergestellten Systems zusammenfassen – der chinesischen Rechtskultur.


Die Geschichte der chinesischen Rechtskultur


Das chinesische Rechtssystem weist eine komplexe Geschichte sowohl hinsichtlich der Rechtsphilosophie als auch der Rezeption von ausländischem Recht auf. Die einflussreichste Richtung der chinesischen Philosophie ist der Konfuzianismus, der im Recht des Kaiserreichs von zentraler Bedeutung war. Laut konfuzianischer Lehre basieren rechts- und autoritätsgefügiges Verhalten auf moralischer Bildung und Erziehung nach den Werten des „li“ – einem Set von sozialen Normen, die teils weiterhin in informellen Institutionen der chinesischen Gesellschaft von Bedeutung sind. Zentrale Werte einer harmonischen Gesellschaft seien Respekt vor einer natürlichen sozialen Hierarchie, Konfliktvermeidung, Kompromissbereitschaft und Zurückhaltung. Die konfuzianische Lehre beinhaltet auch ein Konzept von moralisch unanfechtbarer Autorität.


Demgegenüber basieren soziale Ordnung und die Herrschaft der dominanten Institution laut der Philosophie des Legismus auf strikten Regeln, effektiver öffentlicher Verwaltung und harten Strafen bei Abweichungen von den Regeln – diese kodifizierten Regeln heißen „fa“. Beide Philosophien hatten einen erheblichen Einfluss auf das chinesische Recht, wenngleich dieser Einfluss mit Beginn des 20. Jahrhunderts zu schwinden begann. Der Hauptzweck von Recht in China war somit, die soziale Ordnung und die Macht der herrschenden Institution – seien es Kaiser oder Partei – zu sichern und zu bewahren.


Mit dem Untergang des chinesischen Kaiserreichs gegen Ende des 19. Jahrhunderts orientierte sich China erstmals an Japan bei der Gestaltung rechtlicher Reformen. Um 1900 war Japan ein beachtliches Kaiserreich, das seine Stärke unabhängig von der westlichen Welt entwickelt hatte – das ähnelte Chinas Zielen. Tatsächlich war Japans Verfassungs- und Zivilrecht damals stark vom preußischen Vorbild und dem BGB beeinflusst, da auch Deutschland als bedeutendes Kaiserreich galt. Somit basierte Chinas erste Zivilrechtskodifikation im Jahre 1931 auf dem BGB und der deutschen Pandektistik. Dieser Einfluss des deutschen Rechts bestand über das 20. Jahrhundert hinweg. Er wurde zu Beginn des Bestehens der Volksrepublik China jedoch durch die Rezeption sowjetischen Rechts (das ebenfalls deutsche Grundzüge hatte) lediglich vermittelt. Anfang der 80er Jahre nahm China auch ein wenig international repliziertes Common Law in sein Rechtssystem auf. Am 01.01.2021 wurde das „Zivilgesetzbuch der Volksrepublik China“ eingeführt, das eine unüberschaubare Menge an historischen Einzelgesetzen ersetzt und das Zivilrecht nun einheitlich regelt.


Als hochmoderner Staat regelt China durch Verwaltungseinheiten, Richtlinien und Gesetze schließlich auch das Recht im Internet und digitalen Sektor. Aber wie genau funktioniert das? Und was sind Chinas Ziele?


Cyberrecht


Zunächst einmal im Allgemeinen: Im Grunde beschreibt „Cyberrecht“ die Regeln des Internets und digitaler Leistungen. Es ist jedoch kein separates Rechtsgebiet, sondern kommt in vielen verschiedenen Sektoren des alltäglichen und wirtschaftlichen Lebens vor.

Manche Wissenschaftler unterscheiden zwei Entwicklungsphasen des Cyberrechts: In einer ersten Phase bestand Cyberrecht aus gebietsspezifischen bzw. nationalen Normen, die den „cyberspace“ – also die durch Internettechnologie geschaffene digitale Umgebung – regulierten. Der Cyberspace (sic) verfügte dabei nicht über geographische Aufteilungen; das Internet der späten 90er war schlicht nicht in Verwaltungseinheiten eingeteilt. Michael Geist beschreibt diese Phase in einem Aufsatz von 2003 als ein „grenzenloses Internet“ mit „eingegrenzten Gesetzen“.


In einer zweiten Phase des Cyberrechts regulieren nun zunehmend supra- und internationale Gesetze einen Cyberspace, der geographisch klar aufteilbar ist. Das Internet Protocol und verwandte Anwendungen ermöglichen es Internetanbietern wie staatlichen Institutionen, User zu lokalisieren, sofern diese keine Verschlüsselungssoftware wie zum Beispiel VPN benutzen. Mit den Worten von Michael Geist regulieren nun „grenzenlose Gesetze“ ein „eingegrenztes Internet“.


Diese Ausweitungen des Geltungsbereichs von Cyberrecht machen das Internet und digitales Handeln zu einer Angelegenheit von internationaler Bedeutung, sowohl aus technischer Sicht – da die Natur des Internets eine globale ist, als auch aus der rechtlichen Perspektive.


Auf der globalen Ebene unterscheiden sich die Herangehensweisen an Cyberrecht und die Regulierung des digitalen Raums, was wir als „Cyberpolitik“ bezeichnen können, auf Grundlage der jeweiligen Rechtskultur, politischen Umgebung und wirtschaftlicher Interessen. Innerhalb dieser Meinungsverschiedenheit bezüglich Cyberpolitik zeichnen sich zwei zentrale Positionen ab: Das amerikanische – oder „westliche“ – „Multi-stakeholder-model“ und sein konzeptioneller Gegenpart, die chinesische „Cybersouveränität“.


Multistakeholderism und Cybersouveränität


Der amerikanische Multistakeholderism stellt ein „bottom-up“-Modell dar, da er kommerzielle und private Akteure bei der Gesetzgebung sowie bei der Verwaltung aktiv involviert, obwohl diese Aufgaben traditionell dem Regierungsapparat zufallen. Dieses Konzept von multilateraler Verwaltung wendet zum Beispiel auch die EU im Datenschutz und E-Kommerz an. Im Kern dieser Herangehensweise stehen Werte wie Kooperation, freier Informationsfluss, demokratische Politikgestaltung und Transparenz der Internetregulierung.


Multistakeholderism wird schon seit Langem seitens der USA in der Außenpolitik und auf internationalen Konferenzen wie dem Internet Governance Forum der UN vertreten.


Der Ansatz der chinesischen Regierung basiert auf einer natürlichen Erweiterung der Staatssouveränität in den Cyberspace hinein, sodass der chinesische Cyberspace – sofern man ihn territorial abgrenzt – von China kontrolliert und verwaltet werden sollte, ähnlich wie das Staatsgebiet, die Hoheitsgewässer oder der Luftraum. Dieses Modell von „Cybersouveränität“ beinhaltet zwar auch Multilateralität, nichtstaatliche Akteure sind jedoch im Rahmen einer klaren „top-down“-Hierarchie integriert, die von der Regierung dominiert wird. Die chinesische Konzeption ist von Werten wie Sicherheit im Internet, Kontrolle des Informationsflusses und Erhaltung des politischen und ökonomischen Einflusses Chinas geprägt.


Im Namen der Sicherheit im Internet („cybersecurity“) wendet China auch Filtersoftware an („content moderation“), was vor allem zum Schutz der Jugend noch weiter verstärkt werden soll. Mehrere Unternehmen und Regierungsvertreter verpflichteten sich diesem Vorhaben in letzter Zeit und auch während der World Internet Conference. Diese Mittel zur Steigerung von Sicherheit im Internet werden aus einer westlichen Perspektive als Zensur und Individualrechtsverletzung eingeschätzt. Ordnung und Sicherheit sowohl in der realen als auch der digitalen Welt sind in China jedoch zentrale Regierungsaufgabe. Dies ist Ausdruck des Ideals eines starken Regierungsapparats, der auch das Potential des Internets zu zivilem Ungehorsam unter Kontrolle hat. Dieses Ideal zeichnet sich auch in Bevölkerungsumfragen ab. Natürlich könnte man anmerken, dass Ordnung und Sicherheit sehr vage und umfassende Rechtfertigungen einer Zensur im Internet sind.


Eines der Hauptargumente Chinas dafür, im Internet auf staatliche Souveränität zu bestehen, ist eine empfundene amerikanische Dominanz des globalen Cyberspace. Die meisten Verwaltungsinstitutionen befinden sich in den USA, genauso wie die Mehrheit der Root-Nameserver des Domain-Name-Systems. Die USA hatten durchaus aufgrund mehrerer (mittlerweile teilweise ausgelaufener) Verträge mit wichtigen Akteuren der Internetverwaltung wie IANA oder ICANN eine gewisse Kontrolle über zentrale Internetstandards. China möchte dieser Unausgeglichenheit durch die Kontrolle ihres „eigenen“ Cyberspace und die Förderung gleichberechtigter Kooperation von Staaten auf Ebene des internationalen (Internet-)Rechts entgegenwirken. In diesem Zusammenhang wurde die eingangs erwähnte WIC in Wuzhen ursprünglich auch als das chinesische Pendant zu „westlich dominierten“ Konferenzen und Foren meist der UN organisiert.


Die Unterschiede zwischen Multistakeholderism und Cybersovereignty sind ebenfalls an den abweichenden Interpretationen einiger grundlegender Werte von globaler Internetverwaltung festzustellen: Während westliche Staaten die Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure in multilateraler Verwaltung betonen, fordert China die gleichberechtigte Einbeziehung der gesamten internationalen Staatengemeinschaft. Wo sich westliche Staaten auf den freien Informationsfluss und die demokratische Beteiligung der Bürger berufen, konzentriert sich China auf einen fairen Wettbewerb innerhalb der globalen Internetverwaltung und auf die Vermeidung von Monopolisierung innerhalb der internationalen Gemeinschaft. Und während westliche Staaten Transparenz bezüglich nationaler Internetmaßnahmen und -verwaltung befürworten, fordert China Transparenz bezüglich der Regulierung des Internets auf internationaler und struktureller Ebene.


Die Debatte zwischen China und den USA wird politisch oft als Teil eines „US-China tech war“ präsentiert, wie die South China Morning Post ihre Kolumne betitelt. Aus rechtlicher Perspektive jedoch teilen Multistakeholderism und Cybersovereignty trotz der bereits beschriebenen Unterschiede zentrale Aspekte von „cybergovernance“: Beide Ansätze beinhalten die Einbeziehung von zivilen Akteuren und Unternehmen, internationale Kooperation und die Abwägung zwischen Individualfreiheiten und Sicherheit im Cyberspace und darüber hinaus. Allgemein kann die Vorgehensweise beider Lager auf den jeweiligen politischen Hintergrund, ihre Rechtskultur und ökonomischen Interessen zurückgeführt werden. Allerdings bleibt abzuwarten, ob inmitten dieser Meinungsverschiedenheiten irgendwann eine gemeinsamen Basis für internationale Verträge und eine internationale Verwaltung des Internets gefunden werden kann.

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