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Christoph Möllers: Freiheit, Sichtbarkeit und Grundrechte in der Pandemie

Christoph Möllers ist Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Verfassungsrecht, und Rechtsphilosophie an der Humboldt Universität und Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Vor kurzem ist im Suhrkamp Verlag sein neues Buch "Freiheitsgrade" erschienen, in dem er einen zeitgerechten Blick auf den Liberalismus wirft. Im Zuge dessen trafen wir uns mit Christoph Möllers auf FaceTime, um mit ihm über Freiheit, die Debatten der Unsichtbaren und die Grenzen und Möglichkeiten des Rechts in der Pandemie nachzudenken. Ein Gespräch.


Interview: Marie Müller-Elmau


Christoph Möllers.

Rechtverblüffend: In Ihrem Buch „Freiheitsgrade“ führen Sie unterschiedliche Dimensionen von Freiheit an und fassen diese unter den mechanischen Begriff der „Freiheitgrade“. Individuell und gesellschaftlich, willkürlich und rational, formalisiert und informell. Was lehrt uns die Krise über Freiheit, gemessen in solchen Graden?


Christoph Möllers: Die erste Lehre aus der Krise ist, dass unsere Freiheit nichts Widerspruchsloses ist, sondern dass wir sowohl mit der kollektiven Entscheidung, uns einzusperren, als auch mit dem Leiden daran, Freiheit praktizieren. Auf der einen Seite ist das eine Trivialität, auf der anderen Seite ist das vor allem in der philosophischen Freiheitstheorie nicht so richtig verarbeitet worden. Dort werden die Widersprüche der Freiheit aufgelöst, und am Ende lautet dann die Antwort: hier liegt die Freiheit, aber da nicht. Die Krise verdeutlicht, dass die körperliche Seite individueller Freiheit und die kollektive Seite politischer Freiheit beide ihr Recht haben, und beide nicht ineinander aufgehen. Drosten hat eine Rede gehalten, in der er sagt: „Wir sind nur frei, wenn wir vernünftig sind.“ Das stimmt eben nicht.


Rechtverblüffend: ….wenn wir jetzt vernünftig sind, sind wir unfrei?


Möllers: …sind wir auch unfrei. Das ist glaube ich die eine Lehre aus der Krise. Die zweite Lehre ist eine zeitliche. Es bestehen Widersprüche zwischen kurzfristigem und langfristigem Freiheitsgebrauch. Ich glaube, wir lernen, dass eine bürokratisch-langfristige Vorgehensweise, mit der man sich auf Probleme einstellt, immense Möglichkeiten hat, Freiheit zu schützen.


Rechtverblüffend: In der diesjährigen Kantorowicz-Vorlesung der Frankfurter Goethe-Universität haben Sie gesagt, dass die Aufrufung von Wertbegriffen nicht dazu führt, Rechte und Pflichten zu klären. Das finde ich interessant, und mir leuchtet ein, warum das in bestimmten Fällen so sein muss. Doch sind die Grenzen zwischen Wertbegriffen und Rechten nicht immer ganz klar. Ist Freiheit Ihrer Meinung nach ein Wertbegriff, oder ein Recht?


Christoph Möllers: Das ist eine super Frage, die mich durchaus in Verlegenheit bringt. Ich würde tatsächlich sagen, dass es beide Gebrauche des Begriffes gibt. Wir können Freiheit als Wertbegriff verstehen und ihr dadurch eine übergreifende Bedeutung geben, die noch nicht klar ausdefiniert, was man damit konkret macht, sondern eine Orientierung weist und eine Wertung prägt, ohne deswegen Pflichten zu begründen. Im verfassungsrechtlichen Kontext heißt „Wert“ „objektive Bedeutung“ und „Recht“ heißt „subjektive Durchsetzbarkeit“. Dazwischen gibt es immer Trade-Offs, Preise, die man zahlen muss. Man kann also nicht schlichtweg sagen, das eine verstärke das andere. Für meinen politischen Freiheitsbegriff habe ich diese Unterscheidung nicht verwendet. Doch würde ich sagen, dass Freiheit bei mir auch als Wert benutzt wird.


Rechtverblüffend: Wenn sie nur Wertbegriff wäre, und kein Recht, dann wäre sie in der Begründung von Rechten und Pflichten in der Corona-Pandemie kein angebrachter Diskussionspunkt. Oder?


Christoph Möllers: So würde ich das nicht sagen. Freiheit ist ein Wert, der nur dann ernst genommen werden kann, wenn man ihn auch rechtsförmig ausgestaltet. Das ist glaube ich der Punkt. Irgendwann landet man bei der Frage, was dieser Wert zum Beispiel für die konkrete Handlungsfähigkeit von Personen bedeutet. Wenn er dafür nichts bedeutet, kann man die Freiheit als Wert vergessen. Wenn er hingegen etwas bedeutet, dann wahrscheinlich in der Form eines Rechts.


Rechtverblüffend: In ihrem Buch führen Sie an, dass neben der sichtbaren Zwangssolidarität auch eine vielfach unsichtbare soziale Ungleichheit entsteht. Ich habe mich daher gefragt: Führen wir die falschen Grundrechtsdebatten? Im Vordergrund stehen etwa Fragen des Parlamentarismus oder der Versammlungsrechte, also Diskussionen, die die sogenannten „Sichtbaren“ betreffen. Was ist mit der sozialen Ungleichheit, die entsteht? Wie ließen sich die Folgen daraus grundrechtlich einordnen?


Christoph Möllers: Dass wir die falschen Grundrechtsdebatten führen, sehe ich absolut so. Mir ist auch nochmal aufgefallen, dass es doch seltsam ist, dass wir das Erbrecht unter Grundrechtsschutz stellen, aber das Recht auf einen Kindergartenplatz nicht. Das rührt daher, dass man erstmal davon ausgeht, dass das, was der Einzelne selbst bereits hat, geschützt ist, und das, was er erst vom Staat bekommt, dagegen nicht in demselben Maße. Diese Unterscheidung ist dogmatisch fest verankert, weshalb man schwer davon wegkommt. Trotzdem ist sie problematisch, weil man jedenfalls in einem demokratischen Sozialstaat sagen muss, dass das, was der Staat gibt, auch das je Eigene seiner Bürgerinnen ist. Man müsste also andere Kriterien der Wichtigkeit finden, um Dinge unter Grundrechtsschutz zu stellen. Sonst heißt es als Prinzip schlichtweg nach Matthäus: „Wer hat, dem wird gegeben“. Man muss eine Meinung oder ein Grundstück besitzen, damit sie oder es geschützt werden kann. Wenn wir aber wissen, dass frühkindliche Förderung wichtiger ist als alles andere, um Chancengleichheit zu ermöglichen, dann ist nicht ganz klar, warum das Erbrecht geschützt ist, Kindergartenplätze hingegen nicht. Diese Diskussion müsste man erst einmal grundrechtsdogmatisch führen – es gibt sie so bisher nicht. Das hat jedoch nichts mit dem Parlamentarismus zu tun, im Gegenteil. Als wir die weitgehend parlaments-freien Zeiten im Frühjahr hatten, wurde eigentlich nur nach der Durchsetzungsfähigkeit der mächtigsten Lobbyisten entschieden. Autohäuser wurden also offengelassen, Schulen geschlossen. Das Problem des ungleichgewichtigen grundrechtlichen Schutzes hat sich damals verschärft, weil der politische Prozess diese Ansprüche gar nicht abgebildet hat.


Rechtverblüffend: Ließen sich die Folgen der sozialen Ungleichheit denn überhaupt in einen grundrechtlichen Tatbestand übersetzen?


Christoph Möllers: Die Dogmatik bietet dort einige Wege. Zuerst muss man sagen, dass wir mittlerweile fast alles Handeln grundrechtlich schützen, wenn auch abgestuft. Außerdem beziehen wir bei vielen Grundrechten funktionale Betrachtungen mit ein. Zum Beispiel deuten wir die Rundfunkfreiheit mit Blick auf ihre Bedeutung für die Demokratie. Es gibt also immer Dinge, die im Hintergrund mitspielen. Solche Fragen müsste man sich im Hinblick auf die Verwirklichung von Chancengleichheit auch stellen, also prüfen, welche Bereiche bei einer funktionalen Betrachtung welchen Anspruch erlangen können. Die Tatsache, dass wir eine Schulpflicht haben, der Staat aber gleichzeitig frei ist, die Schulen zuzumachen, ist doch sehr irritierend.


Rechtverblüffend: Ein anderer Punkt, der sich offenbar auftut, ist die unterschiedliche Behandlung von Wirtschaftssektoren, oder genau genommen die vollständige Abschaltung mancher Sektoren, damit andere am Leben bleiben können - ist das Ihrer Auffassung nach verfassungsrechtlich gerechtfertigt?


Christoph Möllers: Ich würde schon sagen, dass die Auswahl von Wirtschaftszweigen – wenn sie denn nachvollziehbar ist – eine Sache ist, die der Gesetzgeber oder die Regierung gestalten kann. Dazu gehört dann auch das Entschädigungswesen. Dabei bleibt gerade im Unklaren, inwieweit der Staat dort eigentlich eine Pflicht erfüllt oder freiwillig zahlt. An erster Stelle ist das ein Befriedungsmechanismus, zu dem keine verfassungsrechtliche Pflicht besteht. Trotzdem werden die Entschädigungen dafür sorgen, dass die Maßnahmen verhältnismäßiger sind, als wenn es gar nichts gäbe. Das Argument, dass die Auswahl verfassungswidrig ist, wäre also nur zu halten, wenn es überhaupt keine Entschädigung gäbe. Man würde den Staat auch sonst auch schlichtweg zu sehr binden.


Rechtverblüffend: Wie wird generell über den Vorrang von Grundrechten entschieden? Warum treten jetzt also zum Beispiel Berufs- oder Kunstfreiheit hinter dem Recht auf Leben so stark zurück?


Christoph Möllers: Die primäre Formel ist die des Abwägens. Das ist auch im Moment noch das herrschende Paradigma. Es ist glaube ich aber wichtig zu sehen, dass Abwägung nicht abstrakt zwischen zwei Rechten erfolgt, sondern immer auf eine konkrete Eingriffssituation bezogen ist. Unsere Methode ist also die, dass all unsere Rechte gleichgewichtig sind, aber die Eingriffssituation zeigt, dass die Verkürzung auf der einen Seite härter ist, als auf der anderen, oder die Rechtfertigung auf der einen Seite spezifischer ist, als auf der anderen. Das Recht auf Leben hat die ulkige Eigenschaft, dass es nur einen Eingriff gibt, nämlich den, es zu beenden. Das Problem ist also weniger, dass das Leben das höchste Gut ist – das stimmt verfassungsrechtlich so nicht – sondern eher, dass nichts als „geringeres Mittel“ zur Verfügung steht. Dadurch wird es immer ein relativ gewichtiges Recht sein, weil es anders als die normale körperliche Unversehrtheit nicht graduierbar ist.


Rechtverblüffend: Sie werfen in einem Interview auf, dass Zweifel an der institutionellen Handhabung in Sachen Pandemiebekämpfung schnell als Panikmache gedeutet und von Corona-Leugnern instrumentalisiert werden. Ich frage mich zurzeit oft - sowohl generell als auch verfassungsrechtlich gesehen - wie Kritik jetzt sinnvoll funktionieren kann. Wie sehen Sie das?


Christoph Möllers: Das ist wirklich eine schwierige Frage. Zurzeit ist es wie eine Art Spiel: ein juristisches Argument muss immer mit einer politischen Begleitaussage gebracht werden. Ich bin selbst in einer Zeitung einmal als Corona-Leugner bezeichnet worden. Man muss also praktisch immer „Doppel-Messaging“ betreiben, indem man zwar ein verfassungsrechtliches Problem aufzeigt, gleichzeitig aber betont, dass man trotzdem nicht grundsätzlich gegen die Einschränkungen ist. So muss man einerseits sagen, dass man nicht denkt, die Entmachtung des Parlaments sei in autoritärer Absicht passiert, sie aber trotzdem ein Problem darstellt. Es ist wirklich unangenehm, fast ist man gezwungen, die Art Medienkompetenz zu entwickeln, auf die man sonst keinen Wert legen würde.


Rechtverblüffend: Was sagt uns das über die Rolle von Rechtswissenschaft in Abgrenzung zur Politik? Schließlich zeigen Sie damit, dass die Grenzen dort zurzeit etwas verschwimmen. An sich gilt doch aber, dass Verfassungsrechtler*innen eine abgegrenzte Position zu Politiker*innen einnehmen. Worin besteht diese dann im Moment?


Christoph Möllers: Sie würde an erster Stelle darin liegen, dass man seine eigenen Maßstäbe methodisch kontrolliert und sich fragt, was man im Januar 2020 dazu gesagt hätte, dass man mit einer Generalklausel rechtfertigt, dass das soziale Leben weitgehend zugemacht wird. Ich wundere mich, dass die Kolleginnen teilweise sehr flexibel werden und manchmal vergessen, was sie vor einem Jahr noch in der Vorlesung erzählt haben. Ich glaube deshalb, dass es vor allem ein Prozess der Selbstprüfung ist. Klar ist, dass wir im Öffentlichen Recht ein sehr politisches Fach sind und es, Gott sei Dank!, auch nicht spurlos an uns vorbeiläuft, wenn sich die Welt ändert. Schließlich behaupten wir auch in vielen Fragen nicht, dass wir dieselben Maßstäbe anwenden wollen wie bei Erlass des Grundgesetzes 1949. Die Veränderung der Maßstäbe ist also per se kein Problem. Wir müssen sie aber als solche beobachten, uns eingestehen und fragen, wie sie zu rechtfertigen sind. Im Frühjahr hätte man gesagt, dass alles schwer zu überschauen war. Nun dauert dieser Zustand aber fast ein Jahr an, und wir hatten den Sommer, um darüber nachzudenken. Irgendwann wird man auch dazu kommen müssen, es als Problem zu bezeichnen.


Zu diesem Komplex gehört aber auch, dass der Einfluss von Wissenschaftlerinnen während der Beratungen zur Neufassung des Infektionsschutzgesetzes erstaunlich hoch war. Das ist auch nicht immer gut. Trotzdem gab es in der Politik - wenn auch unterschiedlich verteiltes -Problembewusstsein. Ich selbst hätte das Infektionsschutzgesetz nicht so gestaltet, am Ende ist es aber glaube ich durch die Beratung sehr viel besser geworden. Ein solcher gesammelter verfassungsrechtlicher Protest - oder wie auch immer man das formulieren würde - ist in Deutschland glaube ich auch etwas Besonderes. Ich bezweifle, dass so etwas beispielsweise in Frankreich jemanden interessiert hätte. Das ist wiederum auch eine Stärke unseres Systems.


Rechtverblüffend: Dieses Jahr denken wir Recht hauptsächlich als Beschränkung. Welche Möglichkeiten schafft es ihrer Meinung nach dennoch?


Möllers: Tja, das ist dieses Jahr wirklich eine schwierige Frage. Ich würde Ihnen gerne eine fröhliche und optimistische Antwort geben. Eine Sache, die ich auch im Buch festgehalten habe, ist, dass in dem Augenblick, indem wir alle relativ gleich und ohne Ausnahmen von diesem Regime getroffen waren, eher eine Form von Gemeinschaft definiert wurde, als hinterher, als man anfing, über Ausnahmen zu diskutieren. Das finde ich interessant, da wir in Deutschland insbesondere auch wegen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Regelungen immer sehr stark individualisieren, und nicht wie in Frankreich eine Kultur der harten allgemeinen Regel haben. Das allgemeine Verbot von außen kann aber auch eine seltsame Art von Gemeinschaftlichkeit stiften – diese Möglichkeit hat sich mir zumindest für einen Moment gezeigt.

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