Das bedingungslose Grundeinkommen: Ein Gespräch
Daria Bayer und Philip Kovce betreiben beide auf ihre Weise (Rechts-)Philosophie. Während Daria sich in ihrer Forschung hauptsächlich der materialistischen Rechtskritik widmet und ihre Erkenntnisse unteranderem in der Regie von Theaterstücken verarbeitet, forscht Philip etwa zur politischen Philosophie der Freiheit und setzt sich für das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) ein.
An einem Novemberabend haben wir uns mit den beiden zusammengesetzt, um grundlegend über das BGE zu diskutieren. Wie radikal ist die Forderung, jeder Person monatlich einen Betrag von ca. 1000 Euro bedingungslos zu gewährleisten? Wohin würde es uns führen? Zurück zum Leviathan? In die Apokalypse? Oder doch in die Utopie? Bei Wein und Kerzenlicht arbeiten wir am Küchentisch die Nuancen und Ambivalenzen dieser aktuell wieder so intensiv diskutierten Forderung heraus. Es entsteht ein Gespräch über Teilhabe, Arbeit und Freiheit.
Organisation und Interview: Marie Müller-Elmau und Alina Braunwarth

© Fabian Hassel
Rechtverblüffend: Philip, das bedingungslose Grundeinkommen wird seit der Coronakrise wieder intensiver diskutiert. Es geht darum, jeder einzelnen Person eine finanzielle Absicherung zu gewährleisten – bedingungslos. Woher kommt diese Idee und wie hat sie sich entwickelt?
Philip: Das erste Mal prominent erwähnt wird das bedingungslose Grundeinkommen 1516 in Thomas Morus’ Dialogroman „Utopia“. Interessanterweise wird das Grundeinkommen dort allerdings nicht als etwas angesprochen, das im fiktiven Inselreich „Utopia“ realisiert ist. Vielmehr wird es in einem dem utopischen Reisebericht vorangestellten Dialog thematisiert, in dem Thomas Morus sein literarisches Alter Ego mit einem Juristen und einem Kardinal streiten lässt. Dabei geht es um die Frage, wie mit dem Straftatbestand des Diebstahls umzugehen sei. Während der Jurist und der Kardinal Diebe für moralisch verwerfliche Unmenschen halten, macht Morus darauf aufmerksam, dass viele Diebe aus unverschuldeter materieller Not heraus geradezu stehlen müssten. Anstatt sie mit dem Tode zu bestrafen, wäre es deshalb wesentlich sinnvoller, ja gerechter, ihr materielles Auskommen zu sichern und damit den Ursachen von Diebstahl entgegenzuwirken. Morus fasst das Grundeinkommen also als Instrument zur Kriminalitätsbekämpfung sowie als Gerechtigkeitserfordernis auf. Als Politikum kommt das Grundeinkommen erstmals im 18. Jahrhundert ins Spiel, und zwar im Zuge der amerikanischen und der französischen Revolution. Dabei wird das Grundeinkommen sowohl aus liberalen als auch aus sozialistischen Motiven befürwortet, die sich bis heute in der Debatte wiederfinden. Dieser Tage wird das Grundeinkommen etwa als Mittel zur Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit, als Konsequenz von Digitalisierung und Automatisierung sowie als Ermöglichung von Care-Arbeit und Ehrenamt diskutiert.
Rechtverblüffend: Philosophisch und politisch gesehen hat die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens also eine lange Geschichte. Im juristischen Kontext ist sie noch relativ modern. Daria, wo bietet das Recht denn Wege, diese Idee aufzugreifen?
Daria: Das Bundesverfassungsgericht leitet bereits jetzt aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ein Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ab. Dieses Recht lässt sich theoretisch in vielerlei Formen praktisch ausgestalten. Die Art und Weise, wie es aktuell gewährleistet wird – also in der Form des Arbeitslosengeldsystems –, ist letztlich nur eine Möglichkeit von vielen. Gleichzeitig ist diese Vag- und Offenheit des Grundgesetzes ein Problem, denn so folgt auch kein zwingender Ausgestaltungsauftrag aus der Verfassung. Mit dem Grundgesetz vereinbar ist also vieles – was dann tatsächlich umgesetzt wird, ist in erster Linie eine politische Frage. Dies zeigt sich ganz aktuell etwa am Vorhaben der Ampel-Koalition, statt Hartz IV ein sogenanntes Bürgergeld einzuführen, bei dem ein Jahr weitgehend auf Sanktionen gegen Arbeitslose verzichtet werden soll. Ob das natürlich so auch umgesetzt und die Situation von Langzeitarbeitslosen tatsächlich verbessern wird, ist eine andere Frage.
Philip: Das Ampel-Bürgergeld als Hartz-IV-2.0 kommt nicht zuletzt deshalb, weil das Bundesverfassungsgericht das Hartz-IV-Sanktionsregime 2019 teilweise für verfassungswidrig erklärt und das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums bekräftigt hat. Das ändert freilich nichts daran, dass die Einführung eines Grundeinkommens primär keine juristische, sondern eine politische Frage ist. Zwar hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages 2016 betont, dass das Grundeinkommen im Einklang mit dem Menschenbild des Grundgesetzes stehe, aber ob wir es einführen wollen, muss letztlich der Souverän entscheiden – bestenfalls in einer bundesweiten Volksabstimmung.
Rechtverblüffend: Und doch ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Mehrzahl der Bürger*innen in einem solchen Volksentscheid für das Grundeinkommen stimmen würde. Wie erklärst du es dir, dass das BGE sich politisch so schwer durchsetzen lässt?
Philip: Wer weiß, wie eine solche Abstimmung ausgehen würde. Bereits vor Corona ermittelte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in einer repräsentativen Umfrage, dass rund die Hälfte der Deutschen ein Grundeinkommen befürwortet. Im pandemischen Ausnahmezustand ist die Grundeinkommenszustimmung vermutlich nicht gesunken. Nichtsdestoweniger lehnen es viele entschieden ab, weil seine Bedingungslosigkeit der Fördern-und-Fordern-Rhetorik von Hartz IV, der eine schwarzpädagogische Zuckerbrot-und-Peitsche-Logik entspricht, zuwiderläuft. Auch das Ampel-Bürgergeld stellt diesen Grundsatz nicht infrage. Davon ausgehend muss es geradezu widersinnig erscheinen, nicht nur brave Bedürftige, sondern auch faule Socken und reiche Erben*innen mit einem Grundeinkommen auszustatten. Dass es dennoch bedingungslos für alle sein soll, lässt sich nicht sozialpolitisch, sondern nur grundrechtlich legitimieren.
Rechtverblüffend: Du vertrittst die Auffassung, dass das bedingungslose Grundeinkommen nicht nur an Grundrechten anknüpft – wie Daria es bereits ausgeführt hat –, sondern selbst eines ist. Wieso?
Philip: Wenn ich vom Grundeinkommen als Grundrecht rede, dann zunächst deshalb, um dem Missverständnis vom Grundeinkommen als Sozialleistung vorzubeugen. Ein Grundeinkommen, das allen garantiert wird, ist keine Sozialleistung. Nur was ist es dann? Ich plädiere dafür, es als neues Grundrecht zu begreifen, sehe aber auch, dass man es als Mittel zum Zweck der Stärkung bestehender Freiheits- und Gleichheitsgrundrechte verstehen kann. Schließlich gilt: Wer nicht über die Ressourcen verfügt, seine Grundrechte wahrzunehmen, dem werden sie zwar de jure gewährt, aber de facto verwehrt.
Daria: Ich habe das Grundeinkommen bisher als eine Position verstanden, die das gegenwärtige Leistungssystem infrage stellen will. Auf der einen Seite könnte es dabei natürlich helfen, ein einklagbares Grundrecht auf ein bedingungsloses Grundeinkommen zu normieren. Durch die Verfassungsbeschwerden, die dann erhoben werden könnten, würde eine neue Beschäftigung mit dem Thema und der konkreten Ausgestaltung des Sozialsystems entstehen. Gleichzeitig kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass es bei der Frage nach dem BGE weniger um die ca. 1000 Euro geht, die man dann monatlich erhalten würde, sondern um mehr: um die Möglichkeit von menschenwürdiger, ent-entfremdeter Arbeit oder gleicher Teilhabe am System. Dafür könnte es helfen, ein neues Grundrecht nicht zu eng zu formulieren, also nicht „Jede*r hat ein Recht auf ein BGE“, sondern eher „Jede*r hat ein Recht auf menschenwürdige Beschäftigung“ oder „Jede*r hat ein Recht auf Teilhabe am sozialen Leben“. Allerdings birgt eine weitere Formulierung wieder die Möglichkeit verschiedener konkreter Ausgestaltungsmöglichkeiten. Schließlich kann man sich fragen, ob es überhaupt einer Normierung im Grundgesetz bedürfte. Jedenfalls hätte eine verfassungsrechtliche Festschreibung einen starken Symbolcharakter.
Philip: Ich würde sagen, dass das Grundeinkommen die Fesseln des gegenwärtigen Leistungssystems sprengt, indem es die Freiheitsgrade der Person erhöht und Leistung nicht auf Arbeitsleistung reduziert. Die Erwerbsobliegenheit im Sozialrecht, die dem Grundgesetz wesensfremd ist, befeuert die neoliberale Leistungsideologie ebenso wie der marktradikale Ausbeutungskapitalismus. Um ein Grundeinkommen einzuführen, müssten wir uns paradoxerweise sowohl sozialer als auch liberaler verfassen wollen. Wir müssten das Grundeinkommen als Gemeinschaft miteinander teilen und jedes Individuum darüber völlig frei verfügen lassen wollen. Auf diese Weise könnte das Grundeinkommen eine Art Schlüsseltechnologie sein, die Leben und Arbeiten, Familie und Beruf fundamental verändert.
Daria: Ich bin mir nicht so sicher, ob das Grundeinkommen an und für sich wirklich als „Schlüsseltechnologie“ ausreicht. Was es ändern würde, ist die Stigmatisierung von Arbeitslosigkeit und die – wirklich vollkommen absurde und menschenunwürdige – Sanktionierung von Hartz-IV-Bezügen, wie sie heute praktiziert und mit dem Ampel-Bürgergeld bestenfalls etwas entschärft werden wird. Aber solange die Einzelnen die Möglichkeit erhalten, über das BGE hinaus unbegrenzt hinzuzuverdienen, könnte das dazu führen, dass der monatliche Grundeinkommensbetrag schlicht an Wert verliert. Außerdem hätten Menschen aus gutsituierten Familien weiterhin einen enormen Startvorteil, wenn man nicht zugleich das Erbschaftsrecht grundlegend reformieren würde. Zudem könnten besonders ehrgeizige, leistungsfähige, gutausgebildete Menschen weiterhin zu großem Reichtum und in damit verbundene Machtpositionen kommen. Dagegen wird es Menschen, die diese Privilegien nicht haben, nach wie vor schwerer fallen, in diese Positionen zu gelangen – trotz BGE.
Philip: Natürlich ist das Grundeinkommen kein Allheilmittel. Aber es gewährleistet die Grundversorgung gerade in Bezug auf die vielleicht entscheidende „Schlüsseltechnologie“ moderner arbeitsteiliger Gesellschaften: Geld. Es gibt das weit verbreitete Vorurteil, Armut sei vor allem Ausdruck eines Charakterdefizits der Armen, die dümmer, kränker, fauler seien, weil sie schlechtere Menschen sind. Das ist Quatsch! Wir wissen längst, etwa durch Studien über die Auswirkungen von mehr oder weniger bedingungslosen Direktzahlungen in der Entwicklungszusammenarbeit, dass Armen vor allem eines fehlt: Geld. Ohne Geld bin ich hier und heute schlicht handlungsunfähig. Dieser Ohnmacht beugt ein Grundeinkommen vor, ohne die Armen paternalistisch zu besseren Menschen machen zu wollen.
Daria: Ich sehe das wie du. Ich glaube nur nicht, dass das reicht. Mit 1000 Euro monatlich kann man sich immer noch keine gute Bildung leisten, wenn nicht auch gleichzeitig öffentliche Schulen besser ausgestattet würden. Außerdem lässt mich an der Einführung des Grundeinkommens ohne fundamentale Änderung der Bildungs- und Sozialpolitik zweifeln, dass viele Feldexperimente, die seine Umsetzung innerhalb des jetzigen Systems getestet haben, gescheitert sind.
Philip: Die Feldexperimente, zuletzt etwa 2017/18 in Finnland, die du als gescheitert ansiehst, sind bereits gescheitert, bevor sie überhaupt begonnen hatten. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil das, was dabei jeweils getestet wurde, einem bedingungslosen Grundeinkommen gar nicht entspricht. Wenn, wie in Finnland, 2000 Arbeitslose für 24 Monate einen Bruchteil des Existenzminimums sanktionsfrei erhalten, dann hat das mit einem Grundeinkommen für alle von der Wiege bis zur Bahre nichts zu tun. Wer wirklich wissen will, wie ein solches Grundeinkommen wirkt, der muss es schrittweise einführen. Spannend finde ich immerhin, was der Berliner Verein „Mein Grundeinkommen“ herausgefunden hat, der bereits über 1000 Jahresgrundeinkommen per Crowdfunding finanziert und verlost hat. Die Glückspilze, die gewonnen haben, berichten oft davon, dass sie die ungewohnte Bedingungslosigkeit der Zahlung zunächst kaum aushalten konnten. Doch auch der Wechsel der inneren Fragestellung von „Was soll ich eigentlich?“ hin zu „Was will ich eigentlich?“ verläuft selten reibungslos, weil vielen das Nicht-Sollen ebenso fremd ist wie das Wollen-Können. Erst wenn es gelingt, die negative Freiheit des Nicht-Sollens auszuhalten, kann sich daraus die positive Freiheit des Wollen-Könnens, ja des Verantworten-Wollens entwickeln.
Daria: Ich finde die psychologische Beobachtung spannend, dass einen die Freiheit des Grundeinkommens gewissermaßen überfordern kann. Diese Beobachtung führt auch zu der wichtigen Frage, was Arbeit ist und was sie bedeutet, welchen Sinn sie uns gibt. Mit absoluter Freiheit geht oft das Gefühl einher, sie auch nutzen zu müssen. Es kann also sehr befreiend sein, die Frage nach der Sinnhaftigkeit nicht stellen zu müssen. Manchen reicht auf die Frage, warum sie arbeiten, die Antwort: „Weil ich dafür Geld bekomme.“ Wenn man das BGE einführt, wird es diese Antwort in dieser Schlichtheit kaum mehr geben. Das entzieht insofern Freiheit, als diese spezielle Möglichkeit der Rechtfertigung für eine Tätigkeit wegfällt. Damit entsteht eine höhere Begründungslast für die Dinge, die ich tue.
Philip: Das klingt jetzt fast so, als ob das Grundeinkommen Lohnarbeit verbieten würde. Tut es natürlich nicht! Aber es fällt damit endlich die zynische „Freiheit“ weg, dazu wohl oder übel gezwungen zu sein. Ich kann mit einem Grundeinkommen selbstbestimmt arbeiten – und genau diese Freiwilligkeit bekämpft Ausbeutung und Entfremdung weit besser als jede arbeitsrechtliche oder sozialpolitische Flickschusterei.
Daria: Ich bin mir da wieder nicht sicher, ob das Grundeinkommen hier so viel ändern würde. Die Annahme, dass ich mit dem BGE plötzlich vollkommen autonom entscheide, würde ich in Zweifel ziehen, eben aufgrund der strukturellen und familiären Beziehungen, in die wir nach wie vor eingebunden bleiben. Außerdem bleibt das beinahe universelle Bedürfnis nach Anerkennung und der gesellschaftliche Druck, erfolgreich zu sein. Und es bleibt die Angst davor, Struktur und Einbindung zu verlieren. Wenn man es so betrachtet, stellt man fest, dass das BGE in Bezug auf Veränderungen gar nicht so radikal ist. Das zeigt sich ja allein schon daran, dass sowohl liberale als auch soziale Theorien sich für das BGE aussprechen. Und letztlich stellt das ja wieder die Frage in den Raum, warum es sich politisch nicht umsetzen lässt…
Philip: …nämlich gerade deshalb, weil es so radikal ist!
Daria: Aber das ist doch absurd! Das Grundeinkommen ist im Vergleich zu vielen anderen linken Forderungen, etwa der Einführung einer Vermögenssteuer, überhaupt nicht radikal. Es handelt sich hier doch nur um eine umgekehrte Ausgestaltung des bestehenden Existenzsicherungssystems…
Philip: …mit dem alles entscheidenden Punkt, dass diese Umkehrung ja genau das Radikale ist! Arbeitszwang wird abgeschafft und Arbeit strukturell Freiwilligenarbeit. Was bitteschön könnte in einer Arbeitsgesellschaft radikaler sein? Während die Vermögenssteuer bestenfalls eine nette Reform auf der Einnahmenseite des Staates ist, revolutioniert das Grundeinkommen die Ausgabenseite des Staates – und die Einnahmenseite aller Bürger*innen. Für die einen ist das eine erstrebenswerte Utopie, für die anderen eine vermaledeite Dystopie – so oder so ist es eine Revolution.
Rechtverblüffend: Was wäre denn konkret die Apokalypse des Grundeinkommens?
Philip: Das kommt darauf an, wen man fragt. Manche Linke meinen, das Kapital würde sich damit von seiner sozialen Verantwortung freikaufen und den Sozialstaat zum Asozialstaat verkommen lassen. Manche Liberale meinen, der Staat würde damit zum Super-Nanny-Big-Brother-Leviathan, der Bäuche stopft und Gehirne wäscht.
Daria: Interessant finde ich den Punkt der Liberalen, dass der Staat dadurch eine neue Form von Macht erlangt. Wenn wir Geld als Macht begreifen, hätte mit dem bedingungslosen Grundeinkommen im Ausgangspunkt ja jede*r dasselbe Maß an Macht. Gleichzeitig wären wir sehr stark vom Staat abhängig, was Missbrauchspotentiale entstehen lässt und auch mit der Idee einer wirklich vollständig globalisierten Welt nicht zusammenpasst.
Philip: Wenn man die Bedingungslosigkeit des Grundeinkommens suspendierte, dann könnte die Staatsmacht das Leben der Einzelnen in der Tat auf bedenkliche Weise diktieren. Deshalb geht die größte Gefahr für das Grundeinkommen nicht von seinen richtigen Gegner*innen, sondern von seinen falschen Befürworter*innen aus. Sie fordern zwar ein Grundeinkommen, wollen seinen Bezug dann aber doch hieran oder daran knüpfen – seien es Bildungsabschluss, Wohlverhalten oder Impfstatus. Schlimmstenfalls verkommt ein solches Grundeinkommen zu einem Teufelspakt, der Geld gegen Gehorsam tauscht. Mit der Globalisierung versteht sich das Grundeinkomme nicht besser und nicht schlechter als der Nationalstaat insgesamt: Wir werden künftig immer wieder aushandeln müssen, was wir regional, national oder global lösen wollen.
Rechtverblüffend: Haltet ihr denn die Befürchtung für legitim, dass das bedingungslose Grundeinkommen letztlich eine Bedrohung ist – und zwar für unsere Freiheit?
Philip: Sagen wir mal so: Gerade weil alle mit einem Grundeinkommen Freiheit gewinnen, verliere ich die Freiheit, andere auszubeuten und von der Ausbeutung anderer strukturell zu profitieren. Wenn ich diesen Zugewinn an Freiheit anderer als Bedrohung empfinde, sollte ich meinen Ausbeutungskomfort mit einem Grundeinkommen lieber nicht aufs Spiel setzen. Und auch wenn ich der Konfrontation mit der existentiellen Frage, was ich eigentlich will, das fraglose Über-die-Runden-Kommen im Hamsterrad vorziehe, sollte ich von einem Grundeinkommen lieber Abstand nehmen. Anders gesagt: Ich muss bereit sein, mit einem Grundeinkommen neue Fragen, neue Probleme zu haben. Wenn ich lieber die alten Fragen und Probleme haben will, sollte alles beim Alten bleiben.
Daria: Ich glaube, dass die Tatsache, dass sich sehr viele Leute genau diesen existentiellen Fragen und Problemen nicht stellen wollen, mit der Grund dafür ist, warum ein Grundeinkommen bisher politisch noch nicht durchsetzbar war.
Rechtverblüffend: Welche Fragen müssen wir uns also stellen, um das Grundeinkommen realisierbar zu machen?
Philip: Wir müssen uns insbesondere fragen, ob wir uns auf die Bedingungen der Bedingungslosigkeit einlassen wollen. Ganz konkret heißt das, dass wir fremden Mitbürger*innen, die nicht unserem Freundeskreis angehören, uns nicht politisch nahestehen oder unser Wertesystem teilen, ein Grundeinkommen bedingungslos zubilligen. Wenn wir an der Integrität der anderen zweifeln und nur unsere eigene Blase für vertrauenswürdig halten, dann werden wir zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass ein Grundeinkommen ein Ding der Unmöglichkeit ist. Kurzum: Je schlechter wir von anderen denken, desto unrealistischer erscheint ein Grundeinkommen. Zugleich müssen wir uns natürlich fragen, was Bedingungen guter Arbeit sind und ob die Bedingungslosigkeit des Grundeinkommens nicht für bessere Arbeitsbedingungen diesseits und jenseits des Arbeitsmarktes sorgt.
Daria: Ich glaube auch, dass die Frage nach unserem Verständnis von Arbeit zentral ist: Welche Tätigkeit bewerten wir als sinnstiftend und wieso? Letztlich sind unsere Gesetze im Sinne einer liberalen Ordnung ausgestaltet und legen Leistung als den Standard fest. Die sozialen Sicherungen, die unsere Verfassung ebenfalls enthält, korrigieren die Defizite dieses leistungsorientierten Systems an einigen Punkten und stabilisieren es dadurch. Sie stellen aber die Leistungsgerechtigkeit nicht ernsthaft infrage. Ob diese liberale Einstellung dem modernen Verständnis von Gerechtigkeit noch gerecht wird, ist eine Frage – eine andere Frage ist, ob sie uns als Gesellschaft glücklich macht und ob das Primat stetigen Wachstums vor dem Hintergrund der Klimakatastrophe aufrechterhalten werden kann. Damit ist das Grundeinkommen am Ende des Tages, zumindest zum aktuellen Zeitpunkt, weniger eine Frage der rechtlichen Umsetzung, sondern zunächst eine Frage des politischen Willens und der gesellschaftlichen Selbstdefinition.
Daria Bayer verfasste im Rahmen ihrer juristischen Promotion ein Theaterstück mit dem Titel „Tragödie des Rechts“, eine wissenschaftlich-künstlerische Abhandlung über die Aktualität der materialistischen Rechtskritik, erschienen beim Verlag Duncker & Humblot 2021. Das in dem Buch enthaltene Stück wurde 2019 in Hamburg uraufgeführt. Zur Zeit veranstaltet Daria szenische Lesungen des Stücks in verschiedenen Städten.
Philip Kovce veröffentlichte mehrere Bücher zum bedingungslosen Grundeinkommen, darunter gemeinsam mit Birger P. Priddat im Suhrkamp Verlag 2019 den Sammelband „Bedingungsloses Grundeinkommen. Grundlagentexte“. Als Teil der Künstlergruppe „Generation Grundeinkommen“ trug er dazu bei, dass die Schweiz 2016 als erstes Land über die Einführung eines Grundeinkommens abstimmen konnte.
Dieses Interview stammt aus der Printausgabe "Utopie & Apokalypse". Die gesamte Ausgabe könnt ihr hier bestellen.