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Das Schicksal der boatpeople: Australiens Schande

Gehen Sie ins Gefängnis. Begeben Sie sich direkt dorthin. Hierzulande ein Spiel, in Australien Realität: Wer dort unter Verdacht auf Visaverletzungen, illegaler Einwanderung oder unerlaubter Einreise steht, kommt zunächst einmal in Haft. Fast ein ganzes Jahrzehnt mussten einige Asylbewerber:innen in Einwanderungshaft ausharren, während sie auf eine Entscheidung über ihren Asylstatus gewartet haben.

von Emma Bruhn


© Lea Donner


Der Fall Novak Djokovic war eine der ersten großen Geschichten, die dieses Jahr durch die Medien gingen: Als der serbische Tennisstar für die Australian Open einreist, wird sein australisches Visum wegen eines ungeklärten Impfstatus annulliert. Vorübergehend verfrachten die Behörden den Weltranglistenersten in ein Melbourner Hotel. Wer dort auch eingesperrt ist? Rund 30 Asylbewerber:innen, die teilweise seit bis zu neun Jahren in Einwanderungshaft darauf warten, dass über ihren Asylstatus entschieden wird.


Einwanderungshaft ist eine Maßnahme der australischen Politik, die sich gegen die Einwanderung von Nichtaustraliern richtet. In Australien wird nach der Art und Weise entschieden, in der Menschen einreisen: Wer nicht übers Boot kommt, darf sich erst einmal frei durchs Land bewegen; wer im Boot ankommt, muss in Haft. Vor Ort werden diese Menschen als boatpeople bezeichnet. Sie werden ohne Papiere auf offener See aufgegriffen und kommen – anders als Asylsuchende, die auf dem Landweg einreisen – erst gar nicht dazu, einen ordnungsgemäßen Antrag auf Asyl zu stellen. De facto haben sie nie australischen Boden betreten, was ihnen ein unmittelbar wirkendes Recht auf Asylprüfung gewährt hätte. Im Februar diesen Jahres haben sich 1459 nicht-australische Staatsbürger mit unklarem Aufenthaltsstatus in Einwanderungshaft befunden, so erklärt das Innenministerium in Canberra.

Doch nicht alle davon befinden sich auf australischem Festland. Australiens grausames, gnadenloses, menschenverachtendes – nein, in der Asylpolitik heißt das: konsequentes – Durchgreifen ist schon lange international umstritten, nicht zuletzt weil sich die Regierung eines Teils des Problems entledigt, indem sie boatpeople in Internierungslager ausfliegt. Bereits 2001 wurde das seitdem wegen seiner Unterbringungsbedingungen immer wieder heftig kritisierte Manus Regional Processing Centre (MRPC) in Papua-Neuguinea eröffnet. Aus dem Lager gab es Berichte von sexuellen Übergriffen, Vergewaltigungen und sexuellem Missbrauch von Kindern. Mehrere Geflüchtete sind dort verstorben, wurden erschossen, die Kehle durchgeschnitten. Wachleute wurden wegen Mordes an einem Häftling zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Wer überlebte, litt unter der mangelhaften Gesundheitsversorgung im Lager. Nachdem es vom Obersten Gericht von Papua-Neuguinea als verfassungswidrig und damit illegal erklärt wurde, war es 2017 endlich gezwungen, zu schließen.


Das Elend hörte mit der Schließung allerdings nicht auf: Die Insassen des MRPC wurden zu drei Nachfolge-Unterbringungszentren nahe der Provinzhauptstadt Lorengau gebracht, deren Bau von der australischen Regierung finanziert wurde und die ebenso schwer in der Kritik standen; später in die Hauptstadt Port Moresby. Im vergangenen Jahr ist das Programm mit Papua-Neuguinea nun endlich eingestellt worden. Eine weitere ähnliche Einrichtung gibt es allerdings noch in der winzigen Inselrepublik Nauru. Ende März hielten sich dort laut Amnesty International 112 Flüchtlinge auf. Unter demokratischen Staaten dürfte der Umgang mit Flüchtlingen der australischen Regierung die menschenverachtendste Praxis der jüngeren Zeitgeschichte darstellen. Der Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee, der seit 2006 selbst australischer Staatsbürger ist, hat die Offshore-Anstalten vollkommen zurecht als „Australiens Schande“ bezeichnet.


Dass das Leid von Manus Island überhaupt publik wurde, ist maßgeblich dem iranischen Kurden Behrouz Boochani zu verdanken. Der kurdische Aktivist hatte 2013 versucht, über Indonesien nach Australien zu fliehen. Auf einem Handy, das er in seiner Matratze versteckte, schrieb er heimlich über die desolaten Zustände auf Manus Island. Seine WhatsApp-Nachrichten wurden später übersetzt, zusammengefügt, als Buch veröffentlicht und vielfach prämiert – unter anderem mit dem Victorian Prize for Literature, dem wichtigsten australischen Literaturpreis. Trotz verschiedener internationaler Appelle, ihn aus der Haft zu entlassen, dauerte es über sechs Jahre, bis der Politikwissenschaftler und Journalist Mitte November 2019 nach Neuseeland ausreisen durfte. Während seiner Haft hat er nach eigenen Angaben miterlebt, wie seine Freunde erschossen, erstochen und ermordet wurden; wie Menschen durch medizinische Unterversorgung gestorben sind und andere von ihren seelischen Qualen zum Selbstmord getrieben wurden. 2269 Tage verbrachte er in Einwanderungshaft.

Die durchschnittliche Einwanderungshaft in Australien beträgt 689 Tage. Bei Novak Djokovic war es ein einziger Tag – wobei ihn, das stellte die australische Innenministerin klar, niemand davon abgehalten hätte, jederzeit auszureisen, wenn er das gewollt hätte. Diesen Luxus hatte kein anderer der rund 30 mit ihm gemeinsam Inhaftierten. Das Park Hotel in Melbourne, in dem sie untergebracht waren, nutzt der australische Grenzschutz erst seit Dezember 2020 als Aufenthaltsmöglichkeit von Geflüchteten. Einige der Insassen haben davor allerdings bereits einige Jahre in Haft verbracht. Die meisten von ihnen wurden 2019 nach Australien gebracht, weil sie dort medizinische Hilfe erhalten sollten, nachdem sie zuvor auf Manus Island oder in Nauru inhaftiert waren. Eine wirkliche Verbesserung ihrer Lebensbedingungen hat die Verlegung ins Park Hotel für sie allerdings nicht bedeutet.


Kurz nach Weihnachten veröffentlichten einige von ihnen Bilder von verschimmelten und mit Maden befallenen Lebensmitteln, die sie in ihren Zimmern erhalten hatten. Mehrere Asylbewerber:innen berichteten außerdem, dass die Fenster ihrer Zimmer zugeschraubt worden seien, was ihnen den Zugang zu frischer Luft verwehre. Auch ohne natürliches Licht müssten sie auskommen. Als Anfang Dezember ein Feuer im Hotel ausbrach, seien sie in der Lobby eingesperrt worden und hätten nicht nach draußen gedurft, verletzt worden sei dabei glücklicherweise niemand. „Ich habe jede Nacht Albträume, alles was ich will, ist Freiheit“, sagt einer der Inhaftierten im Interview mit dem Guardian, Jamal Mohamed. „Ich leide jeden Tag“.


Ein anderer Geflüchteter, der 24-jährige Mehdi Ali, stammt aus dem Iran. Dort wurde er eigenen Angaben zufolge als Angehöriger der ethnischen Minderheit der Ahwazi verfolgt. Er kam daher mit dem Boot nach Australien, damals war er erst 15. Er sagt, er habe neun Jahre seiner Jugend durch die australische Einwanderungspolitik verloren. Anfang März dann endlich die Erlösung: Mehdi Ali kann als freier Mann Australien verlassen und ein neues Leben in den USA beginnen. Er wird einer der letzten sein, die im Rahmen eines Abkommens, das Barack Obama 2016 mit dem damaligen australischen Premierminister Malcolm Turnbull abgeschlossen hat, in die USA umgesiedelt werden. Dass er gehen kann, wurde ihm einige Tage vor seiner Abreise angekündigt. Er hat es für sich behalten. Ali hat gesehen, wie andere Flüchtlinge, denen eine Umsiedlung oder Freilassung versprochen worden war, ihre Sachen packten und zum Flughafen fuhren, nur um wenige Stunden später am Boden zerstört zurückzukehren. Als er geht, muss er viele andere Inhaftierte zurücklassen. Dazu sagt er: „Ich werde erst glücklich sein, wenn alle meine Freunde aus der Haft entlassen werden. Es ist keine Freiheit, bis wir alle frei sind.“ Nach den Vereinigten Staaten hat sich auch Neuseeland dazu bereit erklärt, seit Jahren internierte Flüchtlinge aus den Überseelagern aufzunehmen. In den kommenden drei Jahren werden jedes Jahr bis zu 150 Menschen nach Neuseeland umgesiedelt. Bis zu 450 von ihnen bekommen damit die Möglichkeit, die Unterkünfte zu verlassen. Immerhin.


Djokovics Inhaftierung hat für Empörung gesorgt: In Serbien gingen mehrere hundert Menschen auf die Straße, sogar der Präsident hat sich eingemischt und auf Instagram zugesichert, die serbischen Behörden täten alles dafür, dass „die Schikane des weltbesten Tennisspielers sofort ein Ende nimmt“. Novak Djokovic ist wieder frei, mehr als 1400 Menschen sitzen immer noch in Haft. Es ist Teil der Realität, unser aller Realität, dass Menschen fliehen. Im vergangenen Jahr waren es mehr als je zuvor in der Geschichte der Menschheit, die versucht haben, sich vor Terror, Verfolgung und Krieg in Sicherheit zu bringen. Perspektivisch wird das – gerade aufgrund der klimatischen Veränderungen – immer mehr Menschen betreffen. Die australische Regierung muss ihre Asylpolitik also dringend neu ausrichten: Die Abschottung, die down under betrieben wird, die Offshore-Lager, sie sind menschenrechtswidrig. Der barbarische Umgang mit Geflüchteten, der dort praktiziert wird, ist in jeder rechtsstaatlichen Demokratie heute absolut untragbar. Bleibt zu hoffen, dass auf den temporären Aufschrei, für den der Tennisstar wohl eher unwillkürlich gesorgt hat, nachhaltige Veränderungen folgen werden. Es ist keine Freiheit, bis wir alle frei sind.

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