Der perfekte Mord?
1997 wird eine Studentin auf ihrem Universitätscampus in Rom mysteriös erschossen. Was bleibt, sind Wahrscheinlichkeiten - und ein viel zu mildes Urteil.
von Alina Braunwarth

Es ist der 9. Mai 1997 in Rom. Marta Russo durchquert gerade mit einer Freundin den Hof der juristischen Fakultät der Universität La Sapienza. Marta ist 22 Jahre alt, hat lange blonde Haare, ein hübsches Gesicht und studiert im dritten Jahr Jura. Sie ist ein unauffälliges Mädchen, sie sticht nicht besonders aus der Masse hervor. Doch das soll sich nun ändern. Um 11:42 Uhr bricht Marta unerwartet und lautlos zusammen. Ein plötzlicher Schwächeanfall? Nach ihrem Zusammenbruch ist Marta zwar noch wach, aber nicht mehr ansprechbar. Im Krankenhaus wird sie sofort geröntgt. Es wird festgestellt, dass sie von einer Kugel des Kalibers 22 am Schädel getroffen wurde. Die Patrone befindet sich noch in ihrem Kopf. Marta kommt ins Koma und erliegt 4 Tage später ihren Verletzungen. Doch warum musste die junge Frau sterben?
Marta hatte keine Feinde. Sie war beliebt, hatte einen liebevollen Freund und eine intakte Familie. Sie engagierte sich nicht politisch, nahm keine Drogen und hatte auch sonst keinerlei kriminelle Kontakte. Die Polizei gründet ein 80-köpfiges Ermittlerteam, welches den Mord aufklären soll. Die Aufklärung erweist sich jedoch als kompliziert. Es gibt kein Mordmotiv, die Tatwaffe wurde nicht gefunden und das Opfer wurde am Tatort durch die Rettungskräfte bewegt, wodurch nicht festgestellt werden kann, aus welcher Richtung der Schuss gekommen sein könnte. Es scheint aussichtslos. Niemand hat etwas gesehen, oder gehört. Eine Mauer des Schweigens umgibt die Tat. Dafür verantwortlich ist unter anderem der Universitätsleiter, der seine Mitarbeiter explizit zum Schweigen aufgefordert hat. Doch warum müssen sie schweigen? Was hat die sonst so renommierte Universität zu verbergen?
Bei ihren Ermittlungsarbeiten stoßen die Polizisten auf Schmauchspuren an einem Fensterbrett, das zu einem Raum im Institut für Rechtsphilosophie gehört. Zum Tatzeitpunkt war dieser Raum unter anderem von Gabriella Aletto, einer langjährigen Sekretärin der Fakultät besetzt. Diese meinte anfangs zwar, nichts gesehen oder gehört zu haben, ändert ihre Meinung nun aber doch. Laut ihrer Aussage waren zum Tatzeitpunkt zwei Lehrbeauftragte dort - Giovanni Scattone und Salvatore Ferraro. Die beiden wurden von der Polizei bereits befragt, aber mangels Bezug zum Opfer nicht für verdächtig gehalten. Beide sind hoch angesehene Mitarbeiter der Universität, gutaussehend und intelligent. Sie leiten ein Seminar für Rechtsphilosophie an der Uni, in dem sie sich unter anderem mit dem perfekten Verbrechen befasst haben. Ihrer Ansicht nach ist es unmöglich, einen Mord aufzuklären, wenn der Täter kein Motiv hat und die Tatwaffe nie gefunden wird. Haben die beiden Martas Tod zu Forschungszwecken skrupellos in Kauf genommen, um ihre Theorie zu beweisen? Die Ermittler finden an Kleidungsstücken von Scattone Schmauchspuren, die mit denen des Fensterbretts übereinstimmen. Der Fall scheint quasi gelöst zu sein. Doch dann taucht ein Video auf, dass in ganz Italien zu Meinungsverschiedenheiten führt. Auf dem Video sieht man, wie Aletto von mehreren Polizisten zur Abgabe einer Scattone und Ferraro belasteten Aussage gedrängt wird. Die Frau hält dem psychischen Druck nicht Stand, muss bitterlich weinen und entschließt sich sogar dagegen, beim Prozess gegen die beiden auszusagen. Sind Scattone und Ferraro also wirklich schuldig oder handelt es sich hier um einen Justizskandal? Die Verteidigung setzt alles daran, die Zeugenaussage der Sekretärin zu schwächen und die beiden Rechtsphilosophen als Opfer der Justiz zu stilisieren.
Im Juni 1998 beginnt die Verhandlung. Die Staatsanwaltschaft fordert 18 Jahre für beide wegen vorsätzlichen Mordes, die Verteidigung will einen Freispruch. Da das Gericht bei der Urteilsfindung keine Tatzeugen oder Geständnisse zur Rate ziehen kann, kommt es zu einem sogenannten Indizienprozess, bei dem das Gericht allein auf Beweisanzeichen zurückgreift. Im Unterschied zu einem Beweis belegt ein Indiz eine Tatsache also nicht, sondern begründet nur deren Wahrscheinlichkeit. Das Gericht verurteilt die beiden schließlich wegen fahrlässiger Tötung zu 5 Jahren und 4 Monaten (für Scattone) und zu 4 Jahren und 2 Monaten (für Ferraro). Das Urteil ist für Italiens Bevölkerung, die schon längst ihr eigenes Urteil gefällt hat, zu milde. Wahrscheinlich auch deshalb ist der Fall in den Köpfen vieler Italiener noch heute so präsent.
Marta Russo war zur falschen Zeit am falschen Ort. So wurde sie letztlich das Opfer eines Zufalls, der über ihren Tod entschied. Dieser Zufallsaspekt stellt eine Besonderheit des Falles dar, durch die dessen Aufklärung erheblich erschwert wurde. Eine vollständige Aufklärungsquote von Tötungsdelikten kann jedoch nie erreicht werden. In Deutschland werden jährlich rund 250 Menschen ermordet. Nach Angaben des BKA klärt die Polizei 91,5 % dieser Verbrechen auf. Es gibt jedoch noch andere Zahlen: In Deutschland wird bei ca. 11.000 Toten fälschlicherweise eine natürliche Todesursache diagnostiziert, von denen wiederum ca. 1200 einem ungeklärten Tötungsdelikt zum Opfer gefallen sind. Doch woran liegt das? In Deutschland ist der Arzt dafür zuständig, die Todesursache festzustellen. Ist er der Ansicht, es handle sich um ein Gewaltverbrechen, so werden die Kriminalisten angerufen. Als problematisch erweist sich jedoch, dass jeder approbierte Mediziner zu dieser Untersuchung verpflichtet ist, egal wie gut er sich damit auskennt. Die meisten Ärzte begnügen sich bei der Untersuchung mit Aussagen der Verwandten und unterlassen aus Pietätsgründen eine sorgfältige Untersuchung des Toten. Da kann es natürlich schon einmal passieren, dass Spuren eines Gewaltverbrechens nicht erkannt werden. In Deutschland werden nur 5 % der Toten rechtsmedizinisch untersucht. Das ist im europäischen Vergleich eine unglaublich geringe Zahl. Doch welche Aussagekraft lässt sich diesen Zahlen und Statistiken zuschreiben, die letztendlich ebenfalls nur auf Indizien beruhen? Was wir sicher wissen, ist, dass wir es nie sicher wissen werden. Die Leiche wird bestattet und mit ihr ebenso die Wahrheit.