EGMR Urteil zu Push Backs: Braucht man für ein Recht ein Recht?
Muss man ein Recht besitzen, um ein Recht besitzen zu können? Diese Frage scheint wie eine interessante philosophische Idee ohne praktische juristische Bedeutung. In einem kürzlich vom EGMR gesprochenen Urteil zeigt sich jedoch, wie sehr diese rechtstheoretische Frage gerade für Migrant*innen von existentieller Bedeutung ist. Ein Kommentar von Inga Niedersberg

Am 13.02.2020 entschied die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs (EGMR) in der Rechtssache N. D. und N. T. gegen Spanien, dass Spanien in seiner Exklave Melilla Migrant*innen ohne vorherige Anhörung und Prüfung ihrer individuellen Fluchtgründe nach Marokko zurückführen darf (sog. Push-Backs), wenn diese auf irregulärem Weg ins Land gekommen sind. Das Verbot der Kollektivausweisung und das Recht auf effektiven Rechtsschutz in Verbindung mit diesem Verbot würden dadurch nicht verletzt. Die große Kammer revidierte damit das Urteil der Vorinstanz.
Das Urteil läuft Gefahr, zu einem negativen Präzedenzfall für die effektive Gewährleistung des Non-Refoulement Grundsatzes, dem Verbot der unkontrollierten Abschiebung, zu werden und diesen damit im Endeffekt faktisch auszuhöhlen.
Zum Sachverhalt: Politisch gewichtig, rechtlich simpel
Am Morgen des 13. August 2014 versuchten N.D. und N.T. mit einer Gruppe von Migrant*innen über die spanisch-marokkanischen Grenze auf die spanische Exklave Melilla zu gelangen. Nach stundenlangem Ausharren auf dem Grenzzaun wurden sie von der Guardia Civil festgenommen und umgehend nach Marokko zurückgeführt. Dabei wurde weder ihre Identität festgestellt noch ein Verfahren oder Rechtsschutz gewährt, auch waren keine Anwält*innen oder Dolmetscher*innen zugegen. Daraufhin legten N.D. und N.T. vor dem EGMR Beschwerde gegen Spanien ein. In der Klage machten sie einen Verstoß des Verbots der Kollektivausweisung gem. Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls der EMRK geltend sowie gegen das Recht auf effektiven Rechtsschutz in Verbindung mit diesem Verbot gem. Art. 13 EMRK iVm. Art. 4 4. Prot. EMRK.
Am 3. Oktober 2017 verkündete das Gericht dazu sein Urteil. In seinem Urteil verwies das Gericht auf seine frühere Rechtsprechung, wonach unter einer Kollektivausweisung jede Maßnahme zu verstehen ist, die Ausländer*innen als Gruppe dazu zwingt, das betretene Land wieder zu verlassen. Ausgenommen sind einzig jene Fälle, in denen eine solche Maßnahme auf Grundlage einer objektiven Prüfung der jeweiligen Situation jeder einzelnen Person dieser Gruppe erfolgt.
In diesem konkreten Fall ging den Abschiebemaßnahmen jedoch keinerlei administratives oder gerichtliches Verfahren voran. Eine Prüfung der besagten Ausnahme sei also gar nicht nötig, da es ja an jeglicher Untersuchung der individuellen Situation von N.D. und N.T., unter anderem schon an der Identifizierung von Seiten der spanischen Behörden, gefehlt habe. Das Gericht stellte somit fest, dass in keiner Hinsicht Zweifel an dem kollektiven Charakter der kritisierten Ausweisung bestünden und gab N.D und N.T recht. Die Ausweisung durch die spanischen Behörden stelle also nach Ansicht des Gerichts eine Verletzung von Art. 4 4. Prot. EMRK und Art. 13 EMRK in Verbindung mit diesem Verbot dar.
Dieses Urteil wurde nun im Februar von der Großen Kammer des EGMR revidiert. In dem Urteil bestätigte die Große Kammer zunächst, dass die Ausweisung eine solche im Sinne von Artikel 4 Protokoll 4 EMRK darstelle, da sie ohne jede individuelle Prüfung, mithin kollektiv, durchgeführt wurde. Das bedeutet, weder die Fakten des Falls, noch die rechtliche Grundkonstellation wurden durch das Urteil tatsächlich anders bewertet. Die Argumentation der großen Kammer beruhte maßgeblich auf einem neuen Rechtfertigungstest. Laut des Gerichts sei eine kollektive Ausweisung dann gerechtfertigt, wenn es aufgrund „eigenen schuldhaften Verhaltens“ an der Schutzwürdigkeit der Abgeschobenen fehle. Dieses Kriterium sei dann gegeben, wenn Migrant*innen versuchten, kollektiv und mit Gewalt illegal eine befestigte Landgrenze zu überwinden, obwohl der Staat einen effektiven Zugang zu legalen Einreisewegen geschaffen habe. Sofern eine solche reguläre Möglichkeit zur Einreise bestand, der/die Beschwerdeführer*in diese aber nicht genutzt habe, ist eine Abschiebung nur dann nicht gerechtfertigt, wenn dies auf zwingende, dem Staat zurechenbare Gründe zurückzuführen ist.
Nach der Meinung des Gerichts habe Spanien im Fall von N.D. und N.T. echten und wirksamen Zugang zu Verfahren für die legale Einreise nach Spanien zur Verfügung gestellt. Außerdem betonte die Große Kammer, dass, selbst wenn N.D. und N.T. den fehlenden Zugang zu einem Asylverfahren an der Grenze nachweisen könnten, dieser Umstand auf die Grenzkontrollaktivitäten der marokkanischen Behörden zurückzuführen sei und daher in keinem Zusammenhang mit dem Vorgehen der spanischen Behörden stünde. Das Gericht vertrat also die Auffassung, dass das Fehlen individueller Abschiebungsentscheidungen eine Folge der irregulären Einreise des N.D. und N.T. und mithin gerechtfertigt gewesen sei. Weder Art. 4 Prot. EMRK, noch Art. 13 EMRK iVm. Art. 4 4. Prot. EMRK seien mithin durch die Abschiebung verletzt worden.
Externalisierte Verantwortung und Relativer Menschenrechtsschutz
Nach der bisher überwiegend flüchtlingsfreundlichen Rechtsprechung des EGRM markiert dieses Urteil einen Bruch. Die obige Darstellung zeigt, dass es sich vorliegend nicht um einen missverständlichen Sachverhalt oder eine komplizierte rechtliche Konzeption handelt. Vielmehr mutet die Wende in der Rechtsprechungspraxis des EGMR als Versuch an, das Spannungsverhältnis zwischen staatlicher Souveränität und menschenrechtlichen Verpflichtungen zugunsten ersterer auszugleichen. Als Instrument hierfür nutzt der EGMR die Konzeption des „eigenen schuldhaften Verhaltens“, welches vorliegend in der „Nicht-Nutzung“ regulärer Einreisemechanismen besteht.
Der EGMR ordnet diese Anwendung des Kriteriums als Teil seiner gefestigten Rechtsprechung ein. Die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs bezüglich der Rechtfertigung einer Kollektivausweisung gem. Artikel 4 Protokoll 4 EMRK aufgrund eigenen schuldhaften Verhaltens der Abgeschobenen umfasst jedoch ausschließlich zwei Fälle. Der erste Fall betrifft eine Beschwerde gegen die gemeinsame Bearbeitung und Beurteilung von mehreren Asylanträgen. Das Gericht vertrat hier die Auffassung, dass dies Ergebnis des "eigenen schuldhaften Verhaltens" der Antragstellenden sei, weil sie ihre Asylanträge gemeinsam eingereicht hatten. Im zweiten Fall hatte sich der Antragstellende geweigert, ein Ausweisdokument vorzulegen, so dass er ohne individuelle Identifizierung ausgewiesen wurde.
In beiden Fällen ereignete sich das eigene schuldhafte Verhalten mithin während des tatsächlichen Versuchs der Behörden, die Umstände der Antragstellenden zu beurteilen. Im vorliegenden Fall wendet das Gericht diese Entscheidungen nun auf ein Szenario an, in dem der Staat nie die Absicht hatte, Einzelfallentscheidungen zu treffen und ein mögliches schuldhaftes Verhalten tatsächlich festzustellen. Konsequenterweise müssten somit an die Voraussetzungen eines solchen Tests deutlich höhere Anforderungen zu knüpfen sein.
Das Kriterium des eigenen schuldhaften Verhaltens ist zwar an die Prämisse gekoppelt, dass die Grenze kollektiv und gewaltsam überquert wurde sowie an die Pflicht der spanischen Regierung, ihrerseits effektive und tatsächlich zugängliche Mittel zur Grenzüberquerung bereitzustellen. Beide diese Faktoren werden jedoch durch die Einschätzung der Großen Kammer ausgehebelt, dass die eingeschränkte Zugänglichkeit zu diesen Verfahren aufgrund rassistischer Profilerstellung der marokkanischen Polizei außerhalb der Verantwortung der spanischen Regierung läge. Der EGMR verkennt mit dieser Einschätzung die Realität an Europas Grenzen.
Denn spanische und marokkanische Grenzbeamt*innen in Ceuta und Melilla arbeiten seit Jahren eng zusammen. Die Zusammenarbeit ist Teil einer umfassenden Kooperation zwischen der EU und Marokko zur Ausweitung der europäischen Grenzkontrollen. Vor allem Menschen aus der Subsahara-Region sind im Rahmen dieser Kooperation durch Verhaftungen, Misshandlungen und Deportationen regelmäßig institutionellem Rassismus und Gewalt ausgesetzt. Dies geschieht im Wissen der EU und insbesondere auch im Wissen der spanischen Regierung.
Die Einschätzung des EGMR, dass die Geschehnisse an der spanisch-marokkanischen Grenze außerhalb des der spanischen Regierung zurechenbaren Verhaltens liegen, ist damit nicht nur falsch. Sie erleichtert es den europäischen Staaten zudem, ihre Grenzpolitik weiter zu externalisieren und erlaubt ihnen damit im Ergebnis, ebenso ihre menschenrechtliche Verantwortung auszulagern. Das Kriterium der tatsächlichen Zugänglichkeit zu regulären Überquerungswegen ist somit relativ. Mit anderen Worten: Auch wenn keine tatsächlich zugänglichen, regulären Wege zur Grenzquerung vorhanden sind, dürfen die europäischen Staaten Migrant*innen kollektiv abschieben. Gerade vor dem Hintergrund der meist existentiellen Fluchtgründe von Migrant*innen und Geflüchteten bekommt diese Einbettung des Kriteriums des „eigenen schuldhaften Verhaltens“ eine gänzlich paradoxe Dimension.
Braucht es nun ein Recht, um Rechte besitzen zu können?
Darüber hinaus verkennt der EGMR jedoch eine weitere Dimension der in Frage stehenden Rechte. Bei Artikel 4 4. Prot. EMRK und Art. 13 EMRK handelt sich um Verfahrensgarantien, welche die tatsächliche Verwirklichung des Prinzips der Nichtzurückweisung gewährleisten sollen. Das Prinzip des Non-Refoulement verbietet die Abschiebung von Menschen in einen Staat, in dem sie der ernsthaften Gefahr ausgesetzt sind, gefoltert, unmenschlich behandelt, bestraft oder getötet zu werden. Als Bestandteil des Folterverbots haftet dem Prinzip ein absoluter Charakter an, der Ausnahmen unter keinen Umständen gestattet. Das Non-Refoulement Gebot stellt damit das Minimum, den kleinsten gemeinsamen Nenner, eines effektiven, auf der Würde des Einzelnen beruhenden Flüchtlings- und Migrationsrechts dar.
Das Verbot wird in Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention sowie in Art. 3 der Anti-Folterkonvention explizit garantiert, resultiert indirekt aber auch aus Art. 3 EMRK. Das bedeutet, dass trotz des Urteils der Großen Kammer Push-Backs nach Art. 3 EMRK immer noch verboten sind. Faktisch macht dies jedoch keinen Unterschied. Denn wie soll das Non-Refoulement Gebot tatsächlich gewährleistet werden, wenn zu keinem Zeitpunkt vor der Abschiebung tatsächlich geprüft werden muss, ob die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen. Wird der Rechtsschutz erst im Nachhinein gewährt, wird die absolut zu vermeidende, unmenschliche Folge des Abschiebehandelns mit großer Wahrscheinlichkeit bereits eingetreten sein.
Es zeigt sich hier deutlich: Wenn Menschenrechte nicht geltend gemacht werden können, sind sie im Endeffekt nicht mehr wert als das Papier, auf dem sie stehen. Europas Grenzen entwickeln sich somit zu einem „Niemandsland“, in welchem sich der völkerrechtliche Anspruch auf die tatsächliche und praktische Gültigkeit der Menschenrechte zu einem moralischen Vorschlag entwickelt. Neben den tagtäglichen Menschenrechtsverletzungen an Europas Grenzen, welche mittlerweile allerseits gut bekannt sind, trägt nun auch das Urteil des EGMR womöglich seinen Anteil dazu bei. „Womöglich“ deshalb, da eine Reihe von Push-Back Fällen noch immer vor Straßburg anhängig sind und noch nicht abzusehen ist, wie sich die Rechtssprechungslinie des EGMR in Zukunft weiterentwickeln wird.
Der EGMR schreibt in seinem Urteil: “the domestic rules governing border controls may not render inoperative or ineffective the rights guaranteed by the Convention and the Protocols thereto, and in particular by Article 3 of the Convention and Article 4 of Protocol No. 4”. In dem das Gericht den europäischen Staaten jedoch solch weitreichende Befugnisse einräumt und damit diese zentralen Verfahrensrechte derart aushöhlt, bietet das Urteil paradoxerweise die rechtliche Grundlage für noch mehr Rechtslosigkeit an Europas Grenzen.