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Gerecht und Ungerecht

„Gerecht“ und „ungerecht“ das sind große Worte, die ein gewichtiges Urteil treffen. Im Alltag verwenden wir die Begriffe aber leichthin auch für ärgerliche und erfreuliche noch so kleine Gesten, Erfahrungen, Begebenheiten und Zustände. Monat für Monat legen wir – die Rechtverblüffend-Chefredaktion – daher unser Gerechtigkeitsgefühl auf die Waagschale. Diese Woche klären wir ein für alle mal: Testmöglichkeiten von Geschlechtskrankheiten – gerecht oder ungerecht?


Von Anna Maria Grill

© Antonia Hinterdobler

Arthrose, Unfruchtbarkeit, Herzerkrankungen, Taub- und Blindheit, manche Krebsarten - dies sind nicht nur die überall großgedruckten Risiken von Tabakkonsum, sondern auch die von unbehandelten Geschlechtskrankheiten und -infektionen.


Allein die Begrifflichkeit "Geschlechtskrankheiten und -infektionen" ist nicht gerade einladend und geht nicht leicht über die Zunge – die Krankheiten ironischerweise aber schon. Es wird geraten, sich nach jedem neuen sexuellen Partner testen zu lassen – und sonst routinemäßig ein- bis zweimal im Jahr.


Die Symptome dieser Krankheiten und Infektionen sind weitreichend. Manche haben Fieber, andere Krämpfe, Pusteln oder veränderten Ausfluss. Oder einfach auch gar nichts. Der Verlauf bei Frauen ist aber meistens schlimmer als bei Männern: Frauen haben ein biologisch höheres Risiko, Geschlechtskrankheiten übertragen zu bekommen, da die vaginale Fläche schlicht größer und verletzlicher ist als der hauptsächlich von Haut bedeckte Penis. Um eine Erkrankung festzustellen bedarf es meist einer Blutprobe sowie einem Abstrich bzw. einer Urinprobe.


Im Sexualkundeunterricht in Schulen (zu meiner Zeit zumindest) wurde viel über AIDS geredet, und das natürlich auch richtigerweise; von Gonorrhoe oder Syphilis hat man wahrscheinlich eher etwas in Geschichte mitbekommen. Die Wahrscheinlichkeit, eine dieser Geschlechtskrankheiten zu bekommen, ist bis zum 27. Lebensjahr am höchsten. Kondome, die nicht immer und nicht für alles genutzt werden, schützen bewiesenermaßen nicht die komplette Risikozone und können außerdem reißen; viele Geschlechtskrankheiten werden ebenfalls passiv, also nicht nur durch "biblisches Erkennen" (aka penetrativer Geschlechtsakt), übertragen.


Betrachten wir also die Testmöglichkeiten am Beispiel von München, einer Groß- und Landeshauptstadt. Es gibt eine kostenfreie AIDS-Testmöglichkeit am Rathaus, die aber seit Beginn der Corona-Pandemie geschlossen ist, und stattdessen vier telefonische Sprechstunden pro Woche “für alle Bürgerinnen Münchens” anbietet. Die Münchner AIDS-Hilfe bietet für "LGBT*IQ und andere Männer, die Sex mit Männern haben” einen Gesundheits-Check für HIV, Syphilis, Chlamydien und Gonorrhoe in Höhe von 35 Euro an. Für alle außerhalb dieser Gruppe kostet derselbe Test 56 Euro. Beim Frauenarzt oder Urologen kostet ein "alles umfassender Test" bis zu 250 Euro. Ob dieser von der Krankenkasse übernommen wird, ist nicht sicher. Darüber hinaus gibt es noch die SAM Health Heimtests, die bislang je 35 Euro gekostet haben, ab Mitte März aber um rund 65 Euro erhöht werden: Hierzu muss man 18 Jahre alt sein, eine deutsche Telefonnummer und eine deutsche Fixadresse besitzen.


Die Problematik solcher Testmöglichkeiten sind vielfältig. Man muss erstmal elementarisch über die Existenz derartiger Krankheiten Bescheid wissen und weiterhin von den Testmöglichkeiten erfahren. Man muss sich trauen, hinzugehen und sich vielleicht ohne die Sicherheit der Anonymität (dem Arzt, den Eltern und gegenüber der Krankenversicherung) testen lassen. Und: man muss es sich leisten können. Die Testmöglichkeiten des Münchner Beispiels sind ganz und gar nicht auf Städte mittlerer Größe anzuwenden. Im Gegensatz hierzu gibt es etwa in Frankreich und England komplett kostenfreie, anonyme und routinierte Testmöglichkeiten. Und das auch bei den allermeisten Hausärzten.


Was also ist die gefühlte Ungerechtigkeit an der Sache, abgesehen von den basischen Problemen? Dass die Münchner AIDS-Hilfe namentlich nur Männer erwähnt als "besondere Zielgruppe" ist meiner Meinung nach nicht angebracht. Dass HIV-positive Personen im AIDS-Zentrum Vorrang haben, ist unbestreitbar. Aber aktiv nur Männer zu nennen, ob LGBTQ+ oder nicht, die sich auch (sehr vereinfacht) einen rosa Schal umlegen und sich für etwas anderes ausgeben können, und deshalb fast weniger als die Hälfte der Kosten von dem zu zahlen haben als Frauen, die, ohne Blindschleiche im Höschen, genauso auf ihre sexuelle Gesundheit achten möchten, ist schlicht falsch. Es ist ungerecht, dass die reduzierten Kosten der Testmöglichkeit daher von denen, die nicht angesprochen sind und es nicht unbedingt brauchen, ausgenutzt werden können. Es macht eine Testmöglichkeit für viele auch deutlich weniger einladend.


Wieso muss ich also, als emanzipierte Frau im Jahr 2021, beim Arzt und selbst beim Frauenarzt aktiv nachfragen, um einen (ziemlich teuren) Test zu bekommen? Wäre ich zum Beispiel unter 18, würde mich damit nicht auskennen, hätte keine Ahnung welchen Risiken ich mich womöglich aussetze oder ausgesetzt habe, oder wäre es mir schlicht peinlich zu sagen, dass etwas nicht stimmt oder anders geworden ist – was dann? Beruht sexuelle Aufklärung wirklich nur auf “so wird man schwanger” und “das ist AIDS”?


Ja, dein Sexleben und deine sexuelle Präferenzen gehen niemanden etwas an, solange sie niemanden verletzen oder bedrohen. Aber wenn du mit einer unentdeckten Krankheit um die Häuser ziehst und selbst unbewusst andere ansteckst, weil du nicht in einen Becher pinkeln wolltest oder von der Option nicht wusstest, ist das schlichtweg nicht fair und außerdem strafbar. Es muss aber eben auch nicht immer die Krankenkasse/Eltern/Sekretär*innen mitbekommen. Und eine Unterscheidung zwischen Geschlechtern bei Testmöglichkeiten oder -bedarf ist in Zeiten der Gleichberechtigung, sozial wie auch sexuell, nicht mehr aktuell.


Was sexy oder anziehend ist, liegt im Auge des Betrachters. Aber um die Gesundheit von aller Willen, auch das möglicher ungeborener Kinder, oder einfach aus Respekt, sollten Kondome als genauso sexy gelten wie (glaubwürdig) “Ich habe mich testen lassen” zu flüstern.


(Disclaimer: Termini von Mann und Frau hier im vereinfachten biologischen Sinne zu verstehen.)

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