Klimaaktivismus zwischen Legalität und Legitimität
– Kann radikaler Klimaaktivismus strafrechtlich gerechtfertigt sein?
von Jana Wolf

© Jolanda Zürcher
Gegen Protestierende der Gruppe „Ende Gelände“ wurden aufgrund der Besetzung eines Kohlebaggers in einem Eilverfahren wegen Hausfriedensbruch eine Freiheitsstrafe von zwei Monaten verhängt; in der Berufung wurden die Verfahren gegen eine Geldauflage eingestellt.
Französische Klimaaktivist*innen entwendeten ein Porträt von Emmanuel Macron aus dem Rathaus in Orléans, um auf die unzureichende Klimapolitik Frankreichs aufmerksam zu machen. Es folgten Verurteilungen zu Geldstrafen auf Bewährung.
Diese zwei Beispiele stehen stellvertretend für zahlreiche aktivistische Aktionen, die das Ziel verfolgen, jedenfalls für einen kurzen Moment maximale Aufmerksamkeit für die Themen Klimawandel, Klimaschutz und das Versagen der Politik zu erlangen. Dabei wird bewusst das Erlaubte verlassen und mit teils illegalen Mitteln protestiert: Ziviler Ungehorsam ist zu einem Schlagwort im Kampf gegen die Klimakatastrophe geworden.
Der Gesetzesbruch als Möglichkeit zum Protest kam erstmals 1849 auf, als David Henry Thoreau seine Steuern nicht zahlte, um gegen Sklaverei und den Expansionskrieg der USA zu protestieren. Im Laufe der Zeit haben sich als Reaktion auf weitere Erscheinungsformen und Höhepunkte zivilen Ungehorsams Philosoph*innen, Politik- und Rechtswissenschaftler*innen mit der Frage beschäftigt, was ziviler Ungehorsam per definitionem eigentlich genau ist. Entstanden sind eine Vielzahl von Umschreibungen. Die wohl berühmteste stammt von John Rawls, wonach ziviler Ungehorsam eine „öffentliche, gewaltlose, gewissensbestimmte, aber politisch gesetzeswidrige Handlung“ ist, die
„gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen soll“. Zugleich stellte Rawls Bedingungen auf, bei deren Erfüllung ziviler Ungehorsam moralisch gerechtfertigt sei: Der Protest muss sich gegen schwerwiegendes Unrecht richten, die Möglichkeiten legaler Einflussnahme müssen erschöpft und das Funktionieren der Verfassungsordnung darf nicht gefährdet sein.
Aller moralischen Rechtfertigungsmöglichkeiten zum Trotz zeigen die anfangs beschriebenen strafrechtlichen Reaktionen aber, dass juristisch betrachtet der Zweck nicht alle Mittel heiligt - jedenfalls insofern, als eine strafrechtliche Verurteilung trotz ehrenwertem Ziel droht.
Dies legt einen Wertungswiderspruch offen, nämlichen denjenigen zwischen Legalität und Legitimität. Zwischen dem, was nach positivem Recht womöglich strafbar ist, und dem, was nach moralischer Vorstellung als gerechtfertigt angesehen werden kann. Ziviler Ungehorsam befindet sich genau in diesem Spannungsfeld und stellt das Strafrecht vor die Herausforderung, auch im Zuge einer fortschreitenden Klimakrise auf rechtlich relevante Verhaltensweisen angemessen zu reagieren. Die zentrale Frage lautet also: Kann radikaler Klimaaktivismus auch strafrechtlich gerechtfertigt sein?
Zunächst soll für die weitere Untersuchung unterstellt werden, dass ein strafrechtlicher Tatbestand verwirklicht ist. Im Rahmen des Klimaaktivismus können das beispielhaft Delikte wie Nötigung, Sachbeschädigung oder Hausfriedensbruch sein. Die Erfüllung eines Tatbestands sagt aber per se noch nichts über den strafrechtlichen Unrechtsgehalt einer Handlung aus, vielmehr müssen zusätzlich die Rechtswidrigkeit und Schuld erfüllt sein.
Erstere kann insbesondere dann entfallen, wenn ein Rechtfertigungsgrund greift. So handelt wegen rechtfertigenden Notstands nach § 34 StGB nicht rechtswidrig (und im Ergebnis straflos), wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden. Dabei muss im Rahmen einer Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren das geschützte, das beeinträchtigte Interesse wesentlich überwiegen. Zudem muss die Tat ein angemessenes Mittel sein, die Gefahr abzuwenden.
Dies wirft die strafrechtliche Frage auf, ob der Zweck also doch das Mittel heiligt, sofern man den Klimawandel als eine solche gegenwärtige, nicht anders als durch radikalen Klimaaktivismus abwendbare Gefahr im Sinn des § 34 StGB ansieht. Um diese Frage zu beantworten, sollten die einzelnen Voraussetzungen des § 34 StGB genauer definiert und mit Blick auf den Klimaaktivismus subsumiert werden.
Zunächst zur gegenwärtigen Gefahr: Eine gegenwärtige Gefahr liegt dann vor, wenn der Eintritt oder die Intensivierung eines Schadens wahrscheinlich ist, mit der Schädigung eines der Rechtsgüter also ernstlich zu rechnen ist, sofern nicht alsbald Abwehrmaßnahmen getroffen werden.
Diese juristische Definition bedeutet angewendet auf die Situation des Klimaaktivismus Folgendes:
Was ist das geschützte Rechtsgut? Das Rechtsgut, das im Raum steht, ist kein Geringeres als das einer lebenswerten Umwelt in einem humanen Klima, die Erhaltung der menschlichen Lebensgrundlage selbst. Der Schutz solcher sogenannter Allgemeinrechtsgüter im Rahmen des Notstands ist auch weitgehend anerkannt.
Kann eine Gefahr für dieses Rechtsgut bejaht werden? Die Bejahung einer Gefahr ist mit der fortschreitenden Erderwärmung, die zu wissenschaftlich gesicherten Folgen wie Dürren, Extremwettereignissen, Fluchtbewegungen, Pandemien, Artensterben und Überschwemmungen bei einem Temperaturanstieg über 1,5 beziehungsweise 2 Grad führen wird, recht unproblematisch möglich. Auch wenn aktuelle klimatische Veränderungen (jedenfalls in unseren Breitengraden) noch wenig spürbar sind, so ist ein Kollaps des klimatischen Systems zeitlich absehbar und wissenschaftlich prognostiziert. Zugespitzt formuliert, steht damit nicht das „Ob“ der Gefahr in Frage, sondern vielmehr das „Wann“. Die Gefahr ist damit positiv formuliert in der anthropogenen Erderwärmung, negativ formuliert in der unzureichenden Klimaschutzpolitik als solcher zu sehen.
Ist diese Gefahr auch gegenwärtig? Auch wenn die aktuelle Erderwärmung die Marke von zwei Grad noch nicht überschritten hat, so spricht das nicht gegen die Gegenwärtigkeit der Gefahr. Es kommt nämlich gerade nicht darauf an, wann genau die globale Erderwärmung die kritischen Temperaturwerte erreichen wird, sondern bis wann die Gefahr eines solchen Temperaturanstiegs noch hinreichend erfolgreich abgewendet werden kann. Insbesondere drohende sog. points of no return wie das Auftauen der sibirischen Permafrostböden, eine Veränderung des Golfstroms oder Gletscherschmelzen verdeutlichen die hohe Wahrscheinlichkeit irreversibler Schäden mit unberechenbaren Folgeproblematiken. Es bleibt gerade nicht mehr ausreichend Zeit, menschliche und industrielle Systeme umzuwandeln, gesellschaftliches Leben anzupassen und die Emissionen schrittweise zu reduzieren. Vielmehr besteht Einigkeit, dass nur noch wenige Jahre an Handlungsspielraum verbleiben. Dennoch reichen die aktuellen Ziele und Maßnahmen zur Eindämmung eines Temperaturanstiegs auf unter zwei Grad nicht im Ansatz aus. Somit ist es nur eine Frage der Zeit, wann sich die genannte Gefahr auch tatsächlich realisiert.
Folgende Voraussetzung ist jedoch deutlich problematischer: die nicht anders abwendbare Gefahr. Das bedeutet, dass die Gefahr nicht anders abwendbar sein darf als durch die Erfüllung eines Straftatbestands selbst. Übertragen auf den radikalen Klimaaktivismus muss sich der zivile Ungehorsam zum einen zur Bekämpfung der Erderwärmung eignen, zum anderen dürfen keine milderen Mittel ersichtlich sein.
Ist das gewählte Mittel Klimaaktivismus geeignet? Ein Mittel ist zur Gefahrabwendung dann geeignet, wenn es jedenfalls nicht vollkommen nutzlos ist. Zwar scheint der Maßstab hier nicht hoch, dennoch muss ein Moment innegehalten werden: Durch die Aktionen zivilen Ungehorsams werden offensichtlich weder die globalen Emissionen reduziert, noch haben die Blockade eines Heizkraftwerks, das Besetzen einer Straße oder das Festketten an Eisenbahnschienen überhaupt direkte positive Auswirkungen auf das Klima. Gerade bei einer komplexen, vielschichtigen Gefahr wie der des Klimawandels kann es aber niemals das eine geeignete Mittel zur Gefahrabwendung geben. Vielmehr ist eine Summe politischer und individueller Entscheidungen erforderlich – nur ein inner- und interstaatliches Zusammenwirken kann die Krise aufhalten oder zumindest abschwächen. In dieser Wirkungskette steht auch der Klimaaktivismus: Dieser führt in Form des provozierenden zivilen Ungehorsams zu medialer und sozialer Aufmerksamkeit, kann mittelbar also verstärkten Druck auf die Bürger*innen und politischen Akteur*innen ausüben, was wiederum zu einer Beeinflussung von Mehrheitsentscheidungen und einem Mehr an klimaschützenden Maßnahmen führen kann. Auch Klimaaktivismus ist damit geeignet, die Erderwärmung aufzuhalten.
Ist das gewählte Mittel auch das mildeste? Zudem dürfen keine anderen Mittel ersichtlich sein, die gleich effektiv, aber weniger einschneidend sind. Konkret heißt das: Der Klimaaktivismus (in seiner radikalen Form) muss sich als das mildeste Mittel zum Erhalt des Rechtsguts „lebenswerte Umwelt“ darstellen – und dies insbesondere mit Blick auf die alternativ laufenden staatlichen Initiativen, die ihrerseits darauf gerichtet sind, klimaschützende Maßnahmen zu ergreifen und klimaschädliche Handlungen zu verbieten. Dies scheint insofern problematisch, als der Vorrang staatlichen Handelns ein klares Postulat ist, das es im Rahmen des § 34 StGB gerade beim Schutz von Allgemeinrechtsgütern einzuhalten gilt. Individuelles Handeln muss hinter dem staatlichen Gewaltenmonopol subsidiär zurücktreten. Doch kann dieser Grundsatz auch dann greifen, wenn staatliches Handeln klar unzureichend ist? Betrachtet man die neuesten Entwicklungen, so wird deutlich, dass sich seit der Festlegung auf das 1,5- bzw. 2-Grad-Ziel im Rahmen des Pariser Klimaübereinkommens die (globale) Klimaschutzpolitik in ihrer Umsetzung als unzureichend darstellt. Bereits jetzt ist absehbar, dass die bis 2030 einzuhaltenden Klimaziele, insbesondere die Emissionsreduzierung, nicht erreicht werden. Deutschlands Klimaschutzpolitik wird vom CAT (Climate Action Tracker) als „insufficient“ bezeichnet. Kann also der Vorrang staatlichen Handelns auch dann gelten, wenn nur irgendein staatliches Handeln im Raum steht, aber kein ausreichendes? Kein milderes Mittel kann zudem ein Aktivismus ohne Ungehorsam darstellen. Der Rechtsbruch fungiert gerade als Katalysator für Aufmerksamkeit und Provokation: Ohne Gesetzesverletzung wäre der Klimaaktivismus als geeignetes Mittel zur Gefahrabwendung konterkariert.
Zwei weitere Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands gilt es noch zu untersuchen. Zum einen muss die Interessenabwägung eindeutig zugunsten des Erhaltungsguts „lebenswerte Umwelt“ ausfallen, zum anderen muss der zivile Ungehorsam auch ein angemessenes Mittel zur Gefahrabwendung sein. Was die Interessenabwägung angeht, so stehen sich bei Aktionen zivilen Ungehorsams die Forderung nach ausreichendem Klimaschutz einerseits und die Einhaltung des geltenden Rechts andererseits gegenüber. Anders formuliert trifft das Handeln einer Minderheit auf demokratisch legitimierte Mehrheitsentscheidungen. Denn zu beachten gilt, dass das, was klimaschädlich ist – CO2-Emissionen, der Bau neuer Kraftwerke, der verzögerte Ausbau erneuerbarer Energien usw. – (zumeist) legal ist.
So gegensätzlich wie eben angedeutet, ist das Verhältnis von zivilem Ungehorsam und demokratischer Willensbildung bei genauerem Hinsehen aber nicht: Der Prozess einer demokratischen Mehrheitsentscheidung wird mehr anerkannt als negiert, wenn mittels zivilen Ungehorsams Aufmerksamkeit erregt und die Mehrheit der Bevölkerung und der Politiker*innen beeinflusst werden soll. Ziviler Ungehorsam zielt gerade darauf ab, sich demokratische Prozesse zu eigen zu machen und einen neuen Mehrheitskonsens zu finden. Auch die Prüfung der Angemessenheit des zivilen Ungehorsams als Notstandsmittel befindet sich in diesem Spannungsfeld der Kontroverse aus legalen klimaschädlichen Maßnahmen einerseits und unzureichender Klimaschutzpolitik andererseits.
Solange jedenfalls klimaschädliches Verhalten in großem Umfang rechtmäßig bleibt, wird der rechtfertigende Notstand weiterhin nur mit erhöhtem Begründungsaufwand zu bejahen sein.
Ersichtlich wurde eine Vielzahl ungelöster Fragen, die eine Beantwortung dessen, was im Rahmen des zivilen Ungehorsams strafrechtlich gerechtfertigt werden kann, schwierig machen.
Hier sollten insbesondere die Strafrechtswissenschaft und Gerichte neu ausloten, welche Rolle der rechtfertigende Notstand im Rahmen des Klimaaktivismus zukünftig einnehmen soll. Gegebenenfalls muss neu konzeptualisiert werden, um den Notstand als Rechtfertigungsgrund für Klimaaktivist*innen fruchtbar zu machen, vor allem indem bei der Auslegung der strafrechtlichen Voraussetzungen die Besonderheiten des Klimawandels berücksichtigt werden.
Bisher ist nicht ersichtlich, dass sich deutsche Strafgerichte – anders als beispielsweise jüngere Urteile aus der Schweiz oder Frankreich – bereits ernsthaft mit einer möglichen Rechtfertigung von radikalem Klimaaktivismus auseinandergesetzt haben. Dies ist dringend, ist es doch bereits eine Frage der Gegenwart, wie mit denen umzugehen ist, die sich auch mit radikaleren Mitteln für eine lebenswerte Zukunft unser aller einsetzen. Um mit den Worten von Aktivist*innen zu schließen: „Klimaschutz darf kein Verbrechen sein.“ Oder etwa doch?