Gesetze gut, alles gut?
Wir sollten den Fall von George Floyd als Anlass nehmen, einen Blick auf uns selbst zu werfen. Feststeht, dass Polizeigewalt auch in Deutschland ein Problem ist. Doch wodurch kann sie entstehen? Gibt es Gesetze, welche sie begünstigen? Und wenn das alles nicht an unserem Recht liegt - woran dann?
von Marie Müller-Elmau

Der Fall von George Floyd hat die Diskussion um strukturellen Rassismus und Polizeigewalt wieder mehr in den Mittelpunkt gerückt. Auch hier wurde demonstriert, lautstark kritisiert und Veränderung gefordert. Dabei entstehen oft zwei undifferenzierte Lager: die Polizei ist gut und die Polizei ist schlecht. Was ist mit dem Raum dazwischen? Gibt es in Deutschland Gesetze, die Polizeigewalt begünstigen? Können wir von strukturellem Rassismus sprechen? Und wenn das Recht an seine Grenzen stößt - was hilft dann? Ich habe mit einem Juristen und einer Kriminologin gesprochen, um auf diese Fragen konkrete Antworten zu finden.
Werfen wir zunächst einen Blick in und auf das Gesetz. Grundsätzlich besitzt die Polizei in Deutschland das Gewaltmonopol. Das bedeutet: Polizist*innen dürfen und müssen in bestimmten Situationen Gewalt einsetzen, damit Einzelne es nicht tun. „Eine bestimmte Art von Gewalteinsatz wird man nicht verhindern können. Trotzdem ist rechtsgrundlose, unverhältnismäßige oder überschießende Gewalt in Deutschlands Gesetzen natürlich strengstens verboten“, erklärt Prof. Dr. Burgi. Er ist Professor für Verwaltungsrecht an der LMU München und lehrt unter anderem Polizeirecht. Mit ihm habe ich versucht, den Gesetzen, welche die Polizei betreffen, auf den Grund zu gehen.
Diese sind in Amerika jedenfalls Teil des Problems. Das amerikanische Gesetz unterscheidet sich vom deutschen schon alleine dadurch, dass in den USA ganz andere Waffengesetze gelten. Aber es gibt noch andere, weniger offensichtliche Unterschiede. Zum Beispiel schaffen die Systeme in den USA teils ökonomische und politische Anreize unter Polizisten, Menschen festzunehmen. Der Scheriff wird vom Volk gewählt. Jemand, der für „Law & Order“ sorgen kann, ist verlässlicher und besitzt höhere Wahlchancen. Je mehr Menschen man festnimmt, desto besser steht man – auch innerhalb der Polizei. Das kann Anreize schaffen, „leichte Opfer“ öfters festzunehmen. Ob es solche Anreize auch in Deutschlands Gesetzen gibt? „Nein“, stellt Herr Burgi eindeutig fest. „Für die Beförderungsstruktur in Deutschland sind nicht Fahndungserfolge oder ähnliches maßgeblich, sondern Gesetzestreue. Die meisten Polizist*innen sind Berufsbeamte, was bedeutet, dass man eine lange Ausbildung und Qualifikation durchlaufen muss, bevor man überhaupt Polizist*in werden kann.“ Auch Frau Abdul-Rahman – eine wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Singelnstein, einem der führenden Kriminologen Deutschlands im Thema rechtswidriger Polizeigewalt - verdeutlicht, dass man das Ausbildungssystem in den USA und Deutschland nicht vergleichen kann. In Deutschland sei dies von einem völlig anderen Standard. Was man an der Ausbildung noch verbessern könnte? Man könnte anfangen, mehr Anti-Rassismus Trainings einzuführen, die nicht nur in der Ausbildung, sondern auch als regelmäßige Weiterbildungen stattfinden sollten, schlägt sie vor. „Polizeibeamte erleiden bei ihren ersten Einsätzen oft einen sogenannten Praxisschock, weil sie feststellen, dass bestimmte Dinge in der Praxis doch anders ablaufen“, so Abdul-Rahman. Außerdem stellt sich die Frage, was diese konkret beinhalten sollten. „Es geht eben nicht nur darum, Rechtsextreme zu erreichen, sondern die breite Masse zu sensibilisieren“, meint sie. Somit könnte man auch Kollegen dazu anreizen, reflektierter mit Themen wie Rassismus und Rechtsextremismus umzugehen – und Tendenzen bei sich und anderen schneller zu bemerken.
Dennoch gibt es auch in Deutschland Faktoren, welche die Verfolgung von Polizeigewalt erschweren. So ist mangelnder Tatverdacht oft ein Grund dafür, dass Verfahren eingestellt werden. Dieser ergibt sich meist aus einer unklaren Beweislage. Insbesondere bei Demonstrationen oder Fußballspielen ist die Situation häufig so unübersichtlich, dass sich später nicht mehr feststellen lässt, wer wie gehandelt hat. Problematisch ist auch, dass es in den meisten Fällen keine dritte Zeugenperson gibt: Polizist*innen erzählen oft das Gleiche. So kann man es zwar als sinnvoll ansehen, dass immer zwei Polizist*innen anwesend sind. Wie wahrscheinlich es ist, dass sich einer gegen den anderen wendet, ist jedoch eine andere Frage. Zudem genießt die Polizei vor anderen staatlichen Organen natürlich eine hohe Glaubwürdigkeit. Polizist*innen sind Berufszeugen: sie wissen im Zweifel also auch, worauf es ankommt. Die Tatsache, dass Polizist*innen bessere Kenntnisse im Polizei- und Strafprozessrecht haben als die durchschnittliche Absolventin des ersten juristischen Staatsexamens – wie Prof. Burgi lachend feststellt – ist also an sich wichtig, bedeutet aber auch, dass Polizist*innen wissen, wie man gewissen Schlingen entkommt. Was die Beweislage angeht, so könnte man also durchaus mit dem Gesetz ansetzen, erklärt Frau Abdul-Rahman. Zum Beispiel könnte man anfangen, die Kennzeichnungspflicht von Polizist*innen in allen Bundesländern einzuführen. Darüber, dass Videokameras im Prinzip gut klingen, aber trotzdem kein Allheilmittel sind, sind sich beide einig. Oft ist es schwierig, die gesamte Situation zu erfassen. Außerdem ist für die Strafverfolgung ein zentraler Faktor, dass wenige Personen tatsächlich gegen die Polizei Anzeige erstatten - schon allein aus dem Grund, dass sie die Erfolgsaussichten gering einschätzen. „Es wäre wichtig, das Vertrauen in das rechtstaatliche Prinzip wieder zu stärken“ erläutert Abdul-Rahman. Die Entscheidung, ob ein Fall letztlich vor Gericht gezogen wird, ist nicht zuletzt auch eine Wertungsfrage: Die Staatsanwaltschaft entscheidet, ob überhaupt genügend Beweismittel vorliegen, um einen Prozess zu führen, und wie diese zu bewerten sind. Das ist eben selten der Fall.
Wäre es angesichts dessen also klug, eine unabhängige Institution einzuführen? Auch das ist nicht so klar zu beantworten. Man könnte damit eine Behörde schaffen, welche die Polizei unabhängig kontrolliert, oder an die man sich wenden könnte, wenn häufige Verstöße bei Kollegen auffallen. Allerdings bedeutet eine unabhängige Institution auch, dass diese nicht in einem hierarchischen Strang an Vorgaben gebunden ist – dennoch unterläget sie jedenfalls der parlamentarischen Kontrolle. In England hingegen gibt es bereits eine solche unabhängige Institution. Allerdings muss man bedenken, dass dies eine große gesetzliche und bürokratische Umbaumaßnahme bedeuten würde. Einzelne Polizeibeauftragte gibt es schon, in Schleswig-Holstein zum Beispiel. Jedoch sind auch sie nicht in der Lage, das Ermittlungsverfahren für ein ganzes Bundesland zu leiten. Zudem müsste man sich überlegen, wie man das Budget und die Ressourcen verteilt. Ohne diese Faktoren bringen all diese Ideen auch nicht viel. Eine Institution kann also sinnvoll sein, aber auch nur in ihren eigenen Grenzen.
So viel also zu den Dingen, an denen unser Gesetzgeber rütteln könnte. Reichen sie aus, um strukturellen Rassismus innerhalb der Polizei zu begründen? „Man kann sagen, dass es ein strukturelles Problem bei der Aufklärung von rechtswidriger Polizeigewalt gibt“, so Abdul-Rahman. Studien zu Polizeigewalt in Deutschland konnten Unterschiede zwischen Menschen mit Migrationshintergrund und anderen feststellen. Beispielsweise haben erstere berichtet, in Polizeigewahrsam öfter Gewalt erlebt zu haben“. Natürlich kann die Studie nicht beantworten, aus welchen Motivationen dies resultiert. Trotzdem könnte man sagen, dass auch wir in der Gesamtgesellschaft ein Problem mit strukturellem Rassismus haben – dafür genügt ein Blick auf den Wohnungsmarkt oder den Bildungssektor. „Strukturelle Probleme hören nicht bei der Polizei auf. Es stellt sich natürlich die Frage, ob das Problem bei der Polizei schlimmer ist als beim Rest der Gesellschaft. Dies ist allerdings mangels hinreichender Datenlage schwer zu beantworten.“ Doch sie spricht einen wichtigen Punkt an: „Nicht jede*r einzelne Polizist*in ist Rassist*in. Aber das ist schließlich nicht der Punkt bei strukturellem Rassismus: es geht gerade nicht um den Einzelfall, sondern um die Struktur im Allgemeinen.“ Deshalb sind auch Faktoren wie eine steigende Frauenquote in der Polizei oder eine erhöhte Einbeziehung von Personen mit Migrationshintergrund zwar zu begrüßen, aber auch nicht unbedingt entscheidend. Zwar agieren Frauen oft weniger gewalttätig – das impliziert jedoch nicht automatisch, dass sie auch in jedem Fall einschreiten oder deeskalieren. Was Personen mit Migrationshintergrund angeht, könnte dies sicherlich ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung sein. Wie Studien aus den USA zeigen, passen sich jedoch auch schwarze Polizeibeamte schlussendlich den Strukturen an. Eine diversere Polizei kann rechtswidrige Polizeigewalt zwar womöglich reduzieren, schlussendlich aber auch nicht verhindern.
Gewisse Aspekte von Polizeigewalt könnte man in Deutschland also rechtlich lösen. Die Tatsache, dass unser Bildungs- und Polizeisystem generell besser aufgestellt sind als das in den USA, ist keine ausreichende Entschuldigung. Zu viele Vergleiche mit den USA sind nicht der richtige Ansatz – vielmehr lohnt sich der Blick auf einen selbst. Rassismus muss nicht mit dem Tod enden, um ein ernsthaftes Problem darzustellen. Man muss schon weit im Voraus ansetzen. Schließlich sollte es auch unser Ziel sein, dass es in Deutschland gar nicht erst so schlimm wird, wie in den USA. Doch wo liegen dabei die Grenzen des Rechts? Herr Burgi selbst ist Rechtswissenschaftler, dennoch konstatiert er: „Jurist*innen überschätzen gerne die Bedeutung und Steuerungskraft von Recht. Recht ist zwar ein wichtiger Faktor für die Steuerung von Polizei- und Verwaltungshandeln, aber eben nicht der einzige. Andere wichtige Faktoren sind Ausbildung, Qualifikation, Strukturen der Überwachung, Kontrolle und Transparenz.“ Teilweise würden diese Dinge zwar durch Recht festgelegt – aber eben nicht nur. Recht ist also wichtig. Was aber noch wichtiger ist: ein Bewusstsein darüber, dass rassistische Strukturen kein Hirngespinst sind, sowie ein ernsthafter und differenzierter Blick auf die Polizei - und ihr Handeln.