Hörensagen - Sommerlektüre - "Die Sommer" von Ronya Othmann
Digitale Flüsterpost: Hörensagen ist unsere Reihe für kulturelle und mediale Geheimtipps von Studierenden für Studierende. Unter Hörensagen sprechen unsere Redakteur*innen und Autor*innen ihre (Recht)verblüffendsten Podcast-, Buch-, Film- und Video- Empfehlungen rund um das Thema Recht und Gerechtigkeit aus! Dieses Mal im Fokus: Das Buch "Die Sommer" von Ronya Othmann
von Emma Bruhn


Den Großteil des Jahres verbringt Leyla in einer Doppelhaushälfte in der Nähe von München, doch die Sommer gehören Besuchen bei ihren êzîdischen Großeltern in deren kurdischem Dorf.
Sie wächst auf in gespaltenen Welten, keine der beiden mit dem geringsten Verständnis für die jeweils andere, hin- und hergerissen und unschlüssig darüber, wo sie wirklich hingehört. Es geht um die Suche nach Identität, irgendwo zwischen Deutschland und Nordsyrien, Stadt und Dorf, Mädchen und Frau.
Dabei lässt sich Leylas persönliche Geschichte von der politischen Situation in Syrien nicht trennen, was einem spätestens dann klar wird, als sie mit ihren Eltern vor dem Fernseher sitzt und das IS-Massaker an den kurdischen Jesiden in Syrien im August 2014 verfolgt.
Die Familie ist am Boden zerstört, manche der Verwandten kommen danach nach Deutschland. Leylas Vater sagt: „Es ist seltsam, aber zum ersten Mal wissen die Deutschen, wer wir sind.“ An diesem Punkt überkommt einen der konkrete Wunsch danach, eigene Nachforschungen anzustellen, um sich die Geschichte der Kurden – dieser Gemeinschaft, deren kulturelle Gewohnheiten so ausführlich dargestellt werden – (noch) einmal genauer anzuschauen.
Es geht um Menschen, die selbst alle anderen Religionen respektieren, aber seit Jahrhunderten durch Muslime verfolgt werden. Wie lebt es sich also dort, wo man politisch nicht gewollt ist? Auch da gibt es Leute, die kochen, sich um den Garten kümmern, mit ihren Nachbarn Tee trinken, heiraten und Kinder kriegen. Normale Menschen, normale Leben. Was bedeutet das, normal? Um all das geht es.
Es ist eine Biografie zwischen zwei Welten, aber der Feinsinn der Erzählung dürfte auch alle ansprechen, die die Frage nach dem Sein und der Existenz und der Identität nur halb so sehr beschäftigt wie ein Interesse für Kultur, Politik und Geschichte. Ausdrückliche Empfehlung!
Die Sommer, geschrieben von Ronya Othmann, erschien 2020 im Carl Hanser Verlag.