Illegale Autorennen: die besonderen Umstände des Einzelfalls
Warum wird nicht jede rasende Person, die beim Fahren mit extrem überhöhter Geschwindigkeit einen anderen Menschen tötet, wegen Mordes verurteilt? Wann liegt ein Totschlag und wann nur eine fahrlässige Tötung vor? Und warum stellt sich die Frage nach Mord, Totschlag oder fahrlässiger Tötung überhaupt? Diese und viele weitere Fragen stellen sich möglicherweise viele Menschen - vor allem jedoch Angehörigen der Opfer - im Zusammenhang mit Urteilen in den sogenannten Raserfällen.
Von Leonie Zwink

Erst im Juni diesen Jahres hatte der Bundesgerichtshof das Mord-Urteil des Landgerichts Berlin gegen einen Fahrzeugführer bestätigt. Das Urteil gegen den anderen Fahrer, der am tödlichen Autorennen von 2016 auf dem Kurfürstendamm in Berlin beteiligt war, wurde aufgehoben. Diesbezüglich muss nun erneut vor dem Landgericht Berlin verhandelt werden.
Beide Raser, die sich mitten in der Hauptstadt ein Rennen lieferten und dabei zahlreiche rote Ampeln ignorierten, wurden zuvor vom Landgericht Berlin wegen Mordes nach
§ 211 StGB verurteilt. Einer der beiden hatte während der rasanten Fahrt einen anderen, kreuzenden Autofahrer erfasst und dadurch getötet.
Macht dies beide Fahrzeugführer zu Mördern? Der BGH lehnte dies mit seinem Urteil vom 18.06.2020 ab und machte klar: Ein Raser kann ein Mörder sein, muss es aber nicht. Doch kann es sein, dass zwei Personen, die an derselben Tat beteiligt waren, nach verschiedenen Maßstäben bestraft werden?
Mord und Totschlag
Um die Fragen zu klären, gilt es vorab zu verstehen, dass für die Verwirklichung des Mordtatbestands nach § 211 StGB in objektiver Hinsicht zunächst erforderlich ist, dass ein Mensch unter Verwirklichung eines oder mehrerer sogenannter Mordmerkmale getötet wird. Auf subjektiver Ebene muss ein Vorsatz hinsichtlich dieser Tötung hinzukommen, also der Wille und das Wissen, einen anderen Menschen zu töten. Der Unterschied zwischen Mord (§ 211 StGB) und Totschlag (§ 212 StGB) besteht eben darin, dass beim Mord ein zusätzliches Merkmal zur vorsätzlichen Tötung hinzukommen muss. Dieses kann entweder in einem objektiven (die äußeren Tatumstände betreffenden) oder einem subjektiven (die inneren Umstände des Täters betreffenden) Merkmal bestehen.
Es kommt für die Verwirklichung eines subjektiven Mordmerkmales im Gegensatz zu einem objektiven Mordmerkmal auf die innere Vorstellung des Täters und dessen Absichten im Zusammenhang mit der Tat an und nicht auf die äußeren Umstände der Tat selbst. Diese Mordmerkmale sind in § 211 Absatz 2 StGB geregelt. Ein Beispiel für ein objektives Mordmerkmal ist die Heimtücke. Wenn eine tatbegehende Person bei der Tötung die Arg- und Wehrlosigkeit ihres Opfers in feindseliger Willensrichtung bewusst ausnutzt – also heimtückisch handelt – ist ein Mordmerkmal und damit der Tatbestand des Mordes nach § 211 StGB erfüllt. Ein subjektives Mordmerkmal ist beispielsweise die Verdeckungsabsicht, also die Absicht, einen anderen Menschen zu töten, um eine andere Straftat zu verdecken.
Der Unterschied von Mord und Totschlag zur fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB) liegt darin, dass diese im Gegensatz zu §§ 211, 212 StGB keinen Vorsatz erfordert, sondern Fahrlässigkeit ausreichen lässt. Unter Fahrlässigkeit versteht man eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiver Vorhersehbarkeit, umgangssprachlich also, wenn jemand unvorsichtig handelt. Die fahrlässig handelnde Person hat demnach eben nicht vorher einen Plan geschmiedet, auf eine gewisse Art und Weise zu handeln, und war sich den Folgen dieser Handlung bewusst, sondern hat auf einen guten Ausgang vertraut und sich keine weiteren Gedanken gemacht.
In dubio pro reo und der Beweis
Da eine Verurteilung wegen Mordes eine lebenslange Freiheitsstrafe zur Folge hat, ist es wichtig und unerlässlich, dass ohne Zweifel feststeht, dass die tatbegehende Person alle der oben genannten Merkmale verwirklicht hat. Jede andere Entscheidung wäre mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) und dem in dubio pro reo-Grundsatz, abgeleitet aus Art. 6 II EMRK, Art. 103 II GG, § 261 StPO, nicht vereinbar.
Wie man sich vorstellen kann, ist die Feststellung des Vorliegens vor allem der subjektiven, also inneren Tatbestandsmerkmale nicht immer ganz einfach. In vielen Fällen ist es schwierig im Nachhinein in Täter*innen „hineinzublicken“ und die Vorstellungen, die sie bei der Tat hatten, nachzuweisen. Es ist deshalb erforderlich, die gesamten objektiven und subjektiven Umstände der jeweiligen Tat genau zu betrachten, sie einem Sachverhalt zugrunde legen und anschließend zu prüfen, ob dadurch der Straftatbestand des § 211 StGB verwirklicht ist.
Um überhaupt von einer vorsätzlichen Tötung und nicht lediglich von einer fahrlässigen Tötung nach § 222 StGB ausgehen zu können, ist vor allem die Abgrenzung von bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit von besonderer Bedeutung. Während beim bedingten Vorsatz der Eintritt des Taterfolgs von Täter*in billigend in Kauf genommen wird – ihm/ihr dieser also quasi gleichgültig ist, erkennt er/sie im Falle der bewussten Fahrlässigkeit zwar die Möglichkeit des Erfolgseintritts, hofft jedoch auf einen guten Ausgang. Es wird mit dem Nichteintritt der als möglich erkannten Folge gerechnet: „Ach, ein kleines Autorennen. Wird schon alles gut gehen.“, so könnte man die Gedanken bewusst fahrlässig handelnder Raser*innen wohl beschreiben.
Auswirkungen der Eigengefährdung
Die Abgrenzung zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit erfordert stets die oben genannte Gesamtschau aller subjektiven und objektiven Tatumstände. Laut BGH ist für die Annahme eines Vorsatzes erforderlich, dass sich der/die Richter*in mit der Persönlichkeit der angeklagten Person auseinandersetzt und deren psychische Verfassung bei der Tatbegehung, ihre Motivation und sonstige für das Tatgeschehen bedeutsamen Umstände, insbesondere die konkrete Angriffsweise, berücksichtigt. Objektive Umstände der Tat, wie im Falle des illegalen Autorennens der der hohen Gefährlichkeit der Tathandlung, können dabei ein Indikator sowohl für das Willens- als auch für das Wissenselement des bedingten Vorsatzes sein. Zu beachten ist jedoch, dass die Gefährlichkeit einer Tathandlung und eine hohe Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts keine allein maßgeblichen Kriterien für die Entscheidung sein können, ob eine angeklagte Person mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat. Miteinzubeziehen ist vielmehr auch der vorsatzkritische Umstand der Eigengefährdung, der mit einem derartigen Unfall einhergeht. Raser*innen setzen sich auch immer selbst einem Risiko aus, und wenn sie die Eigengefährdung im konkreten Fall erkennen, kann dies dafür sprechen, dass sie auf einen positiven Ausgang vertrauen. Im Fall des Berliner Autorennens hat die Eigengefährdung die Annahme eines Vorsatzes jedoch nicht ausgeschlossen. Der Angeklagte erkannte den Unfallhergang als möglich und nahm die hiervon ausgehende Gefahr für sich selbst, die er als gering einschätzte, hin.
Dass die Unglücksfahrt von Berlin als Mord und nicht lediglich als Totschlag einzuordnen war, lag daran, dass der verurteilte Raser unter anderem die Mordmerkmale der Heimtücke und der niedrigen Beweggründe bei seiner Tat verwirklichte. Niedrige Beweggründe liegen vor, wenn die Motive einer Tötung „nach allgemeiner sittlicher Anschauung verachtenswert sind und auf tiefster Stufe stehen“. Dies war im Falle des Tötens eines Menschen durch ein Autorennen, welches „um jeden Preis gewonnen werden wollte“, anzunehmen.
Der Einzelfall in der Verurteilung
Gerade im Strafrecht ist es – vor allem im Hinblick auf die persönlichen und wirtschaftlichen Folgen einer Verurteilung für Angeklagte – von großer Bedeutung, auf den konkreten Einzelfall zu achten. Nur die Umstände dieses Einzelfalles dürfen zur Grundlage einer Entscheidung gemacht werden. Wenn eine solche Vorgehensweise gewährleistet ist, können gerechte Ergebnisse für den Einzelnen erzielt werden. Im Fall des Fahrzeugführers, der das dritte Auto rammte und den unbeteiligten Fahrer tötete und gegen den das Mordurteil bestätigt wurde, ist aufgrund oben genannter verwirklichter Mordmerkmale zweifelsfrei von der Erfüllung des § 211 StGB auszugehen. Da eine mittäterschaftliche Begehung (§ 25 Abs. 2 StGB) durch den anderen Fahrzeugführer mangels gemeinsamen Tatentschlusses nicht vorliegt, ist diesem der Mord nicht zuzurechnen. Das Landgericht Berlin muss diesbezüglich neu verhandeln und prüfen, ob er sich möglicherweise wegen eigenständigen versuchten Mordes strafbar gemacht hat – weil er mit 170 km/h durch die Innenstadt fuhr, auch wenn durch seine Fahrt niemand unmittelbar starb.