Impfpflicht in der Pandemie: ein theoretisches Problem?
Eine Impfpflicht setzt voraus, dass keine milderen, gleich effektiven Mittel bestehen, um die Gesamtbevölkerung zum Impfen gegen einen Krankheitserreger zu bewegen. Warum die gesellschaftlichen Auswirkungen einer Pandemie jedoch meist selbst die beste Impfkampagne sind und somit die mildesten Mittel gegenüber einer Impfpflicht darstellen und warum es dennoch klarer rechtlicher Richtlinien für eine Impfpflicht bedarf – ein Kommentar.
von Paul Dießelberg

Wir leben in Zeiten, in denen alltägliche Themen zu hochrelevanten Grundrechtsfragen werden, in denen Freiheiten, Rechte und Güter miteinander für die gesamte Gesellschaft abgewogen werden müssen und in denen das Thema der Krankheitsvermeidung zur Gewährung eben dieser Alltäglichkeiten zentral in der öffentlichen Debatte steht. Rechtlich heißt das: Grundgesetz und Infektionsschutzgesetz – beides zwar bereits oft herangezogene Rechtsgebiete, die aber selten so intensiv im Lichte der öffentlichen Debatte standen.
Eine Debatte über Gesundheit und Grundrechte steht jedoch seit einiger Zeit immer wieder im Rampenlicht: die Debatte um die deutsche Impfpflicht. Meist in Bezug auf die Masernerkrankung wird eine Impfpflicht, also eine Verpflichtung gewisser gesellschaftlicher Gruppen, sich gegen einen bestimmten Krankheitserreger impfen zu lassen, um in wiederum bestimmten Kontexten an dem gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können, heftig diskutiert. Debatten, bei denen meist liberal verfassungsauslegende Jurist*innen, Ärzt*innen sowie der Großteil der Gesellschaft, Verschwörungstheoretiker*innen und wiederum streng verfassungsauslegenden Jurist*innen gegenüberstehen. Diese Konflikte poppten immer wieder an die Oberfläche, teils durch internationalen Druck seitens der WHO, teils durch einzelne alarmierende Krankheitsausbrüche, die in Deutschland bei unseren heutigen medizinischen Standards nicht mehr sein dürften. Produktiv und lautstark wurden sie allerdings nie geführt und letztlich verliefen sie immer wieder im Sande der Tagespolitik.
Ob dies 2020/2021 auch der Fall sein wird – das wissen wir noch nicht. Eines ist jedoch sicher: Mit dem Aufkommen der COVID19-Pandemie wird Impfen im Allgemeinen und insbesondere die damit verbundene Impfpflicht wieder zur Diskussion stehen.
Moment. Einen Impfstoff gegen COVID19 gibt es doch noch gar nicht! Zudem bestehen noch keine Langzeitstudien, die die Ernsthaftigkeit der COVID19-Krankheit nachweisen, es gibt keine verlässlichen Angaben in Bezug auf die gesellschaftliche Durchseuchung oder Herdenimmunität und selbstverständlich noch keine Absehbarkeit, mit welcher Ausbreitung des Virus noch zu rechnen ist. Es muss also eine vorgeschaltete Debatte geführt werden – und das macht die Thematik der Impfpflicht umso schwieriger:
Sobald eine Impfung gegen COVID19 verfügbar ist, liegt der Fokus auf der Verhinderung der Ausbreitung der Krankheit beziehungsweise auf der Prävention des Aufkommens einer neuen epidemischen Welle, wofür der Staat an einer Impfung großer Teile der Bevölkerung interessiert ist. Das Ziel ist, eine bestimmte Durchimpfungsrate zu erreichen, damit die sogenannte Herdenimmunität entsteht, die auch diejenigen vor der Krankheit schützt, die – etwa aufgrund einer Immunschwäche – nicht geimpft werden können. Impfungen haben als primäres Ziel zwar den Selbstschutz vor Krankheiten für die Geimpften, sekundär und vielleicht viel entscheidender kommt es aber auf die Funktion des Bevölkerungsschutzes an. Wird also eine gewisse Durchimpfungsrate nicht erreicht, da bestimmte gesellschaftliche Gruppierungen sich gegen diesen kollektiven Bevölkerungsschutz aufgrund von Eigeninteressen wehren, kommt als letztes Mittel nur eine Impfpflicht in Betracht. Allerdings stellt eine Impfpflicht einen ernstzunehmenden Eingriff in Grundrechte dar: In erster Linie in die körperliche Unversehrtheit der zu Impfenden, allerdings auf zweiter Ebene auch schnell in die Berufsfreiheit der Behandelnden sowie – so zumindest bei der bislang am intensivsten diskutierten Masernimpfpflicht – in das elterliche Erziehungsrecht sowie in Gleichheitsrechte.
Unterlegt mensch diese Rechtslage mit dem neuartigen COVID19-Virus und zieht gleichzeitig das Infektionsschutzgesetzt heran, dann wird schnell eine bereits bestehende Regelung ersichtlich, die wiederum auf eine Impfpflicht hindeutet: § 20 Abs. 6 u. Abs. 7 IfSG schreibt vor, dass Bundes- beziehungsweise Landesgesundheitsministerien durch Rechtsverordnung eine Impfpflicht für eine „übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen“ regeln können, wenn mit ihrer epidemischen Verbreitung „bei Teilen der Bevölkerung“ zu rechnen ist. Eine entsprechende Rechtsverordnung gab es jedoch nicht und würde auch vor dem Hintergrund des COVID19-Virus schwer unter diese Norm subsumiert werden können, da sich der Paragraph liest, als müsse ein entsprechender Impfstoff bereits zur allgemeinen Verfügung stehen. Zwar lässt sich COVID19 durchaus als eine übertragbare Krankheit mit klinisch (zumindest ausreichend) schweren Verlaufsformen werten, die jedoch offensichtlich epidemisch die Gesamtgesellschaft betrifft und nicht einzig regional isolierbare Teile der Bevölkerung. Mit einer Impfpflicht nach § 20 Abs. 6 IfSG kann nämlich nur auf einen akuten lokalen Ausbruch reagiert werden – das Ziel der Norm sei nicht die bundesweite Herstellung einer absolut nicht bestehenden Herdenimmunität. Nun könnte nach der Teleologie der Norm zwar ausgelegt werden, dass diese Regelung erst recht gilt, wenn die Gesamtbevölkerung betroffen ist, allerdings würde dies eine erneut deutlichere Grundrechtseinschränkung mit sich bringen, weshalb diese Regelung des Infektionsschutzgesetzes (zumindest nach dem aktuellen Wissensstand) nicht in Zusammenhang mit COVID19 eine Impfpflicht herbeibringen könnte.
Abgesehen von dem Fakt, dass eine Impfpflicht voraussetzt, dass ein sicherer, nebenwirkungsarmer Impfstoff bereits zur Verfügung steht, muss auch kritisch angemerkt werden, dass eine Impfpflicht als Maßnahme mit Zwangscharakter immer nur Ultima Ratio sein kann. Sofern mildere, gleich effektive Maßnahmen zur Einwirkung auf die Willensbildung der/s Einzelnen bestehen, müssen diese zuerst genutzt werden, um die Gesamtbevölkerung zum freiwilligen Impfen anzuregen. Jegliche Anreizmaßnahmen, die im Zuge der Masernimpfpflicht diskutiert wurden scheinen, in der aktuellen COVID19 Situation jedoch erst recht keine Anwendung zu finden. Die Öffentlichkeit muss nicht unbedingt umfassender informiert werden, finanzielle Anreize sind vermutlich ebenso ins Leere führend und sich auf bestimmte gesellschaftliche Kontexte zu konzentrieren macht aufgrund des Epidemiecharakters wenig Sinn. Impfgegner*innen werden sich durch all diese Maßnahmen nicht erreichen lassen, weshalb eine Impfpflicht – bei grundrechtlich angemessener Ausgestaltung – sinnvollerweise übrig zu bleiben scheint.
Allerdings ist bereits fraglich, ob überhaupt eine große Gegner*innenschaft im Zuge einer groß angelegten COVID19 Impfkampagne bestehen würde. Aufgrund der Natur einer solchen Epidemie, die ganze Arbeitssektoren lahmt legt, Gesundheitssysteme belastet, die Wirtschaft schwächt und intensiv die eigene persönliche Freizeit, das Reisen und das freie Bewegen einschränkt, muss mensch sich die Frage stellen, ob es nicht auch im Interesse der Impfgegner*innen steht, nicht aufgrund gesellschaftlicher Solidarität oder medizinischer Hilfe, sondern aufgrund des eigenen persönlichen Nutzens Impfungen zu befürworten. Da die COVID19-Pandemie nur wenige wirklich gesundheitlich angreift und umso mehr Schaden im gesellschaftlichen Leben einer/s jeden Einzelnen anrichtet, ist von einer weitaus höheren Zahl von Impfungen in der Bevölkerung auszugehen. Insbesondere wenn das Absolvieren einer Impfung an freies Reisen oder Arbeiten geknüpft werden sollte. Die Auswirkung der Epidemie selbst ist also die beste Impfkampagne als mildestes Mittel gegenüber einer Impfpflicht.
Letztlich ist davon auszugehen, dass es einer Impfpflicht nicht bedarf, um ausreichend Impfungen zur Eindämmung von COVID19 durchzuführen. Dennoch sprechen wir hier von einem Idealzustand in vielerlei Hinsicht: Denn erstens gibt es noch keinen zuverlässigen Impfstoff, zweitens wissen wir nicht, wie epidemisch sich COVID19 in der Zukunft noch ausbreiten wird und drittens ist es einfach nicht genau vorhersehbar, wie sich Gesellschaften in Bezug auf zukünftige Regelungen verhalten werden. Zudem ist in Bezug auf COVID19 nicht bekannt, wie viel Prozent Durchseuchungsrate in der Gesellschaft bestehen muss, um von einer Herdenimmunität sprechen zu können. Somit wäre auch die Zahl der zur scheiternden Viruseindämmung nötigen Impfgegner*innen noch ungewiss und damit unklar, wie erforderlich eine Impfpflicht überhaupt wäre, auch wenn keine gesonderten, milderen Maßnahmen bestünden.
Allerdings kommen Krankheitserreger immer wieder und werden in Zukunft sogar noch zunehmen. Weltweit wachsen die Bevölkerungen drastisch, der Mensch dringt in naturbelassene Gebiete immer weiter vor und kommt somit intensiver in Kontakt mit unbekannten Tieren und Pflanzen. All dies geschieht parallel zur Klimakrise, die ganze Klimazonen und somit fremde Krankheiten in unerfahrene Gesellschaften verschieben wird.
Der Mensch wird insbesondere in diesen Zeiten stets vor neue medizinische Herausforderungen gestellt und deshalb ist es wichtig, dass die Impfdebatte auch über COVID19 hinaus bestehen bleibt.
Idealerweise lässt sich eine flächendeckend staatlich kontrollierte und durchgeführte Impfpflicht nach dem Opt-Out-Prinzip wünschen, aus der mensch samt Begründung individuell austeigen kann, während sich um die Erinnerung und letztliche Durchführung der Staat beziehungsweise das Land kümmert. Obwohl auch diese Form des gesundheitlichen libertären Paternalismus (Nudgings) verfassungsrechtlich höchst problematisch ist, muss unsere Gemeinschaft langfristig zu einer Empathie-Gesellschaft werden. Insbesondere dann, wenn der Schutz der anderen Menschen einzig den (eventuell sogar nur einmaligen) Eingriff in die körperliche Integrität in Form eines Stiches einfordert.
Leider ist weder unser Staats- und Rechts-, noch unser Gesundheits- oder Gesellschaftssystem und erst recht nicht ein Virus ein Wunschkonzert.
Es bleibt also abzuwarten…