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Alexander Kluge über Raumschiffe, Menschlichkeit und den Ort, an dem sich Poetik und Recht treffen.

Alexander Kluge ist Schriftsteller, Filmregisseur, Philosoph und Jurist. Wir haben ihn gefragt, was Juristerei und Poetik eigentlich gemeinsam haben und festgestellt: eine ganz besondere Feinheit.


Interview: Marie Müller-Elmau


Alexander Kluge. © Markus Kirchgessner


Rechtverblüffend: Herr Kluge, was haben Literatur und Juristerei gemeinsam?


Alexander Kluge: Sehr wenig. Die Art und Weise, wie man Urteile schreibt, hat etwas mit Literatur zu tun. Inhalte des Rechts hingegen haben etwas weniger damit zu tun. Es sind zwei ganz verschiedene Metiers. Ein juristisches Urteil ist präzise und entschieden. Diese Entschiedenheit hat Literatur nicht – sie ist ihr Feind. Die Literatur ist sehr stark auf Beobachtung, auf Erfahrungsgehalt, auf Nebeneinanderstellen geeicht. Das wenigste ist auf Urteil geeicht. 


Rechtverblüffend: Literatur und Recht unterscheiden sich also besonders in ihrer Sprache und Herangehensweise. Einmal geht es um Beobachtung, das andere Mal um Beurteilung. Aber folgt ein Urteil nicht auch aus Beobachtung?


Alexander Kluge: Aber natürlich. Die Auseinandersetzung mit einem Sachverhalt – das wäre objektive Beobachtung, also exakte Tatsachenfeststellung und Konkretion. Erst dann kommt das Urteil. Dieses muss möglichst entschieden und kurz sein.


Rechtverblüffend: Im Juristischen ist Beobachtung also lediglich eine Frage der objektiven Tatsachenfeststellung?


Alexander Kluge: Nein, auch des Subjektiven. Der Punkt ist: in der Poesie sind objektive und subjektive Seite in einem Equilibrium. Der Dichter findet sie also gleich wichtig. Der Poet bringt sie nicht zusammen, achtet aber subjektive genauso wie objektive Tatsachen. Der Mensch ist ein anti-realistisches Lebewesen. Seine Wünsche, seine Glückssuche, sein Zwerchfell, und seine Haut funktionieren anders als sein Kopf. Und selbst die Ohren sind noch different! Der Mensch hat also eigentlich die fünf Sinne und noch zweiunddreißig gesellschaftliche Sinne. Manche Sprachen wie die der Keten, ein Urstamm im russischen Norden, können die Beziehung "Ich rede freundlich mit dir", "Ich rede, und bin dein Feind" oder "Ich rede, und bin halbtot." ausdrücken. Jede Empfindlichkeit hat ihre eigene grammatikalische Form. Sie können die Befindlichkeit, die subjektive Seite, also reicher und poetischer spiegeln, als wir es aus unserer lateinischen Überlieferung kennen. Wenn sie die subjektive Seite reich wahrnehmen können, dann können sie die Anwendung auf das, was uns umgibt - die sogenannte Realität - gut spiegeln. Trotzdem muss man beides wiedergeben: zum Beispiel wie in dem Satz: „Fröhlich saß er im Nieselregen.“ Draußen und Drinnen stimmen also nicht immer überein. Insofern haben wir einen antagonistischen Realismusbegriff. Es gibt einen Realismus des Gefühls, und einen Realismus der Tatsachen. Unser subjektives Empfinden muss auf das, was wir Realität nennen, sprachlich antworten. Oft geschieht das gar nicht bewusst. Wie Heinrich von Kleist sagt: "Es ist etwas in mir, welches spricht." Das ist ein schöner Ausdruck für poetische Tätigkeit. Es ist nicht der autokratische Autor, der Bekenntnisse bringt und die Welt gestaltet, wie ein Zirkusdirektor. Nein, wie ein Sammler, Pflanzer, Gärtner geht er mit sich und dem, worüber er dichtet, um. Bei Sokrates hätten Sie beides, weil er sagt: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Ich habe aber ein Daimonion in mir und jetzt bin ich neugierig darauf, etwas zu wissen. Erst stelle ich Neugier her, und dann versuche ich, nachzuspüren. Aber ich bin nicht primär Eroberer und Kolonialherr meiner Gefühle und meiner Umgebung.


Rechtverblüffend: Funktionieren diese Methoden nicht auch bei Jurist*innen?


Alexander Kluge: Diese Tugenden funktionieren bei Juristinnen, wenn sie ihr Metier beherrschen. Zunächst arbeiten sie an einem Sachverhalt. Den strukturieren sie nach den gesetzlichen Kriterien, in denen dort der Tatbestand umrissen ist. Sie betreiben Faktorenisolierung. Es wird ein Gehege eingerichtet, in dem der Rechtsstreit stattfindet. Alles übrige wird ausgeblendet. So wie beim Zweikampf im Mittelalter: Es kämpft nicht jeder gegen jeden. Es wird also isoliert - das Gottesurteil wird nur zwischen den Zweien gefällt, die konkret betroffen sind.


Rechtverblüffend: Man isoliert also aus der Fülle der Welt, was relevant ist und trifft allein darauf basierend eine ausgeglichene Entscheidung?


Alexander Kluge: Ja, alles übrige wird als dreizehnte Fee ausgeschlossen. Der Jurist schafft zunächst einen Algorithmus. Das ist nicht die Aufgabe eines Poeten. Innerhalb des Algorithmus trifft der Jurist eine mögliche Entscheidung, nicht unbedingt eine richtige oder absolute. Er ist kein lieber Gott oder Salomo von sich aus. Aber nachdem er die Faktoren isoliert hat, kann er die Rechtsgründe auf etwas Übersichtliches anwenden und ein Urteil bilden. Dies ist im Grunde eine Schlichtung. Erst jetzt kommt die subjektive Seite ins Spiel, die für den Poeten fast die wichtigste ist. Für den Juristen heißt sie: Was ist der Vorsatz? Worin liegt die Zurechenbarkeit der Schuld? Oder im Zivilrecht der Haftung. Wir gehen also ähnlich vor, wie Silicon Valley die Welt ordnet - wir schaffen Algorithmen. Poeten sind im Grunde die Anwälte des Gegenalgorithmus. Sie würden sagen: wo sind die Lücken? Jeder Algorithmus ist angelegt, Lücken zu lassen und Faktoren zu isolieren. Wie bei Himmelskörpern liegen weite Strecken dazwischen – dort ist es leer. Und da sehe ich das Poetische.


Rechtverblüffend: Jurist*innen müssen also für eine gute Entscheidung ein Verhältnis komplett vom Rest der Welt isolieren. Wo genau im Universum befinden sie sich dann?


Alexander Kluge: In einem Raumschiff. Juristen würden am liebsten Schwerelosigkeit erschaffen. Zwischen Mond und Erde heben sich am abarischen Punkt die Gravitationskräfte gerade auf. Dieser Punkt ist absolut ruhig. Da könnte die vatikanische Bibliothek parken, sie würde ganz langsam über die Jahrzehnte hin um fünf Meter rotieren, wegen des Einflusses des Jupiter und der Störung der Sonne - aber die wesentlichen Kräfte sind Erde und Mond - und in der Mitte ist: Gleichgewicht. Das Gleichgewicht ist ein Punkt außerhalb der Welt. Aristoteles sagt: gebt mir einen Punkt außerhalb der Welt und ich werde die Erde verändern. Damit meint er diesen Punkt, einen hoch-künstlichen Punkt, an dem eigentlich absolutes Denken stattfindet. Es ist also ein Raumschiff außerhalb des praktischen Lebens. Der öffentliche Platz, die Agora, hingegen ist für Theater oder für eine politische Entscheidung besser geeignet als für ein ruhiges, juristisches Urteil.


Rechtverblüffend: Wenn wir aber eine Entscheidung nicht öffentlich überprüfen lassen sollten, wie dann?


Alexander Kluge: Hans Kelsen sagt zum Beispiel: Wir müssen uns erst mal nur um die Gesetzestexte kümmern und sie vom subjektiven Gutdünken befreien. Deshalb hätte nach Kelsen das gesunde Volksempfinden in einem Urteil nichts zu suchen. Professoren der Kieler Rechtsschule hingegen, die im Dritten Reich eine starke Stellung hatte, würden sagen: gesundes Volksempfinden oder Lebenserfahrung sagt mir, was Recht ist. Das ist ein sehr gewillkürter Faktor. Ich bilde mir mein Urteil, und dagegen sind andere wehrlos. Wenn das der Angeklagte, der Verteidiger und der Richter nun alle machen, haben sie im Grunde eine Völkerschlacht. 


Rechtverblüffend: Das bedeutet, Recht hat nichts mit Individualisierung zu tun?


Alexander Kluge: Die Begriffsjurisprudenz ist abstrakt. Wie Ihering es formulierte: „Gedachte Feuerwehrleute mit gedachten Schläuchen löschen gedachte Brände.“ Das ist Begriffsjurisprudenz. Kelsen sagt, wir müssen das Recht erst einmal rein anwenden. Weil er ein guter Jurist ist, führt das bei ihm zu keinem begrifflichen Schematismus. Dieselbe Methode in begriffsstutzigen Händen - das wäre Schematismus. Gegen dieses Begriffsdenken wendet sich die individualisierende Methode der Süddeutschen Neukantianer unter den Juristen. Diese Schule sagt nicht „ich schaue“. Statt dessen geht es um die genaue Beobachtung der Umstände und der Interessenlage. Ich wende jetzt also Interessenjurisprudenz an. Aus welchen Gründen und aufgrund welcher Umstände sagt einer das, was er äußert. 


Rechtverblüffend: Ist das nicht die Methode, die Jurist*innen im Idealfall ohnehin anwenden sollten?


Alexander Kluge: Ja, das ist die beste Methode, weil sie beides kann. Sie unterscheidet, was man nicht individualisieren kann von dem, was man individualisieren muss.


Rechtverblüffend: Das Raumschiff, in dem wir Jurist*innen uns bei einer Entscheidung befinden – ist dort eine gute Entscheidung überhaupt möglich?


Alexander Kluge: Im Grunde nicht. Es ist ein Verstoß gegen das Herz. Man möchte sagen: hier fehlt doch etwas? Wo ist die dreizehnte Fee? Jetzt sagt ein Poet: ich bin der Anwalt der dreizehnten Fee, des Ausgeschlossenen. Damit bin ich allerdings ein Störfaktor im Prozess. Wenn man in Gleichgewichten, und nicht in Entweder-Oder Prozessen denkt, gibt es das ausgeschlossene Dritte. Wenn man das einbezieht, findet Individualisierung statt.


Rechtverblüffend: Man könnte also sagen, dass sich Juristen in ihrer Argumentation an der Dialektik von Hegel orientieren - These, Antithese und dazwischen die Synthese. Damit widersprechen sie der üblichen Logik, dass es nur zwei extreme Gegenpole – entweder, oder - gibt, indem sie das beachten und schaffen, was zwischen oder außerhalb von ihnen existiert? 


Alexander Kluge: Genau. Das würde sich im Juristischen auf drei Ebenen ausdrücken: dem Allgemeinen, dem Besonderen und der Einzelheit. Wenn Sie einen lebendigen Begriff und keine Vogelscheuche bauen wollen, brauchen Sie diese drei Dinge. Sie können nicht einfach sagen, das Allgemeine lehne ich ab - dann hätten Sie keinen Gesetzestext mehr. Dann gibt es das Besondere: wie jetzt zum Beispiel das Coronavirus. Es gehört nicht allgemein zu unserer Evolution. Der Kern der Besonderheit ist, dass überall, wo wir Sinne gebrauchen, die Realitätskontrolle im Folgenden besteht: Was ist? Was geschieht? Und: was habe ich nicht gesehen? Das ist der Blick auf das Besondere. Wir wenden also Fernrohr und Mikroskop gleichzeitig an.


Rechtverblüffend: Diese Methode würde Ihrer Meinung nach also eine gute Juristin ausmachen?


Alexander Kluge: Und einen guten Poeten! Für den Juristen ist es nur eine Tugend, die er zusätzlich einbringt- das Metier verlangt es nicht ausdrücklich von ihm. Ein guter menschlicher Jurist lässt sich aber unterscheiden von einer Jury, die sich nach Schnauze auf irgendwas einigt oder mit einem Uhrmacherverstand sagt: da es nicht bewiesen, und im Prozess nicht vorgetragen ist, gibt es das nicht.


Rechtverblüffend: Also ist es eine Tugend, die dazu dienen kann, unter Juristen zu differenzieren.


Alexander Kluge: Ja, so könnte man das sagen. Im Kaukasischen Kreidekreis bei Brecht gibt es einen Teil, wo ein gewöhnlicher Dorfschreiber mit einem Richter verwechselt wird. Er soll einen Streit schlichten, wobei unklar ist, welche von zwei Frauen die Mutter eines Kindes ist. Der Richter merkt, dass die Frau, die an dem Kind ruppt, nicht die Mutter sein kann. Zwar sprechen Beweise dafür, dass das Kind der Streitgegnerin gehört. Die Art und Weise aber, wie diese mit dem Kind umgeht, sieht nicht so aus, wie eine Mutter handelt. Der Richter weiß: diejenige, die lieber den Arm des Kindes abreißt, um nicht nachgeben zu müssen, ist nicht die Mutter.


Rechtverblüffend: Also kommt damit das Subjektive - die Empfindung - doch in unserem juristischen Unterscheidungsvermögen zur Sprache?


Alexander Kluge: Alles, was wir empfinden kommt bei Warmblütern aus der Unterscheidung zwischen heiß und kalt. Zwischen „ich liebe dich“ und „ich hasse dich“, und „dies glaube ich, ist das Recht“, liegt ein weiter Weg. Das ist dann schon ein Tausendfüßler, der das feststellt. Aber die Grundunterscheidung sagt uns unsere Haut. Ich habe Richter kennengelernt, die außer, dass sie Recht anwenden können, wie ein Chirurg sein Messer benutzt, noch eine charakterliche Haltung haben. Diese gibt das Augenmaß an. Dieses Augenmaß können sie in keinen Paragrafen fassen. Dort berührt es sich mit dem Poetischen, ohne mit ihm identisch zu werden.

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