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Ist doch nur nett gemeint! – Warum Catcalling kein Kompliment ist.

von Paula Herbig und Alice Juraschek

© Konstantina Stefou


Schlüsselgeklimper, eine ins Schloss fallenden Türe. Laufgeräusche. Alea* macht sich auf den Weg zur Uni. Ihr Weg führt sie einmal quer durch die Innenstadt, vorbei an Boutiquen, Eisdielen und Fastfoodketten. Sie biegt mehrmals links und zweimal rechts ab, schlängelt sich vorbei an wartenden Menschen und schreienden Kindern. Die Zeit drängt, sie ist spät dran. Alea ist auf Höhe eines Spielplatzes, als sie aus ihren Gedanken gerissen wird. Eine laute Stimme durchdringt sie förmlich, macht sich in ihr breit. Bis die Worte richtig bei ihr ankommen, dauert es noch weitere Sekunden. Es ist die Stimme eines Mannes, eines fremden Mannes, Alea hat ihn noch nie zuvor gesehen. Seine Worte: „Hey Süße, an deinen Arsch würde ich aber gerne mal ran, wenn du weißt, was ich meine“. Ungläubigkeit macht sich breit, hatte sie sich verhört? Doch es dämmert ihr, dass sie ihn genau verstanden hat, schließlich kennt sie solche Situationen. Die Sekunde, die sie braucht, um ihr Erlebnis einzuordnen, nutzt der Mann, ein paar weitere unangebrachte Worte hinterherzuschieben. „Komm schon, mit mir kannst du Spaß haben“, hallt es in Aleas Ohren. Überforderung und Angst setzen ein sie will weg, einfach weg, möglichst schnell. Fight? Flight? Freeze? Aleas Körper reagiert mit Letzterem, versteift sich, macht die Flucht schwer, eine Reaktion schwerer. Sie ignoriert den Mann so gut sie kann, mühsam setzt sie ihren Weg in die Uni fort. Die Situation ist vorbei, das schlechte Gefühl bleibt.


Was Alea hier passiert, ist für die meisten weiblich gelesenen Menschen alltäglich. Noch nicht lange gibt es einen Begriff dafür – Catcalling. Das ist der Sammelbegriff für sexualisierte, verbale Belästigung - meist im öffentlichen Raum. Diese Belästigung äußert sich in den unterschiedlichsten Formen, mal bleibt es bei einer unerbetenen Bemerkung über das Aussehen, mal wird gepfiffen, mal gehupt, mal gegrölt. In anderen Situationen verfolgt der Täter die Person, bedroht oder beleidigt sie, fasst sie gar ungewollt an. Davon betroffen sind hauptsächlich weiblich gelesene Personen und Menschen, die marginalisierten Gruppen angehören - Täter hingegen sind hauptsächlich Männer.


Dass es sowas wie Catcalling gibt, dass die Rollen der Täter und Opfer so klar nach sozialem Geschlecht bzw. Gender aufgeteilt sind und dass diese Art von Übergriffen hauptsächlich in der Öffentlichkeit stattfinden, ist kein Zufall. Der Grund dafür lautet: Macht. Genauer: die ungleiche Verteilung von Macht - viel Macht für Männer, wenig Macht für Frauen und nicht-binäre Personen. Diese asymmetrische Verteilung ist historisch gewachsen und lässt sich unter anderem auf die stereotype Rollenverteilung zwischen den Gendern zurückführen. In den westlichen Gesellschaften werden diesen klar bestimmte Attribute und Eigenschaften zugeordnet. Männlich gilt für uns als stark und durchsetzungsfähig, weiblich hingegen als schwach und anlehnungsbedürftig. Diese spezifischen Genderstereotype führen für Männer und männlich gelesene Personen zu Privilegien, über die sich eine Machtposition in der Gesellschaft etabliert. Aus dieser Machtposition heraus werden andere als schwächer wahrgenommen. Im patriarchalisch geprägten System liegt die Deutungshoheit darüber, wer wo etwas zu sagen hat beim Mann und so schlägt sich die Ungleichverteilung noch immer in vielen Bereichen nieder.


So betrachtet wird deutlich, dass es sich bei der Aufteilung von Täter- und Opferrolle nicht um etwas handelt, das rein individuell geschieht, sondern dass sie Teil eines Systems ist, von dem die Täter profitieren. Besonders sichtbar wird dieses im öffentlichen Raum, der lange vor allem die Sphäre der Männer war – der Wirkungsbereich der Frauen war im Gegensatz dazu das „Heim“. So ist diese Öffentlichkeit auch heute noch auf männliche Bedürfnisse zugeschnitten, nach ihren Regeln gestaltet und somit ein „Wohlfühlort“ für Männer. Für weiblich gelesene Menschen ist das spürbar - die Öffentlichkeit stellt oft einen „Angstraum“ dar, ist für sie gefährlich - weil sie in ungefilterter Härte die Machtverhältnisse der gesamten Gesellschaft widerspiegelt. Für Frauen und weibliche gelesene Personen ist es vollkommen selbstverständlich, Schutzmaßnahmen zu ergreifen, wenn sie in der Dunkelheit – und die tritt an einem Winterabend schon sehr früh ein – unterwegs sind. Da wird der Schlüsselbund so in die Faust genommen, dass die Schlüssel zwischen den Fingern nach außen zeigen, Freund*innen erinnern sich gegenseitig an „text me when you’re home“, schlecht beleuchtet Wege werden gemieden, Parks sowieso, Kopfhörer bedecken nur ein Ohr, um nur ein paar Beispiel zu nennen. Wie normalisiert Übergriffe im öffentlichen Raum sind, zeigen außerdem Apps wie WayGuard oder das Heimwegtelefon e.V., beides Angebote, mit denen sich die Betroffenen auf ihrem Weg begleiten lassen können. Diese asymmetrische Machtverteilung tritt dann besonders deutlich zu Tage, wenn Betroffene sich gegen Catcalling-Übergriffe wehren, die Kommentare nicht für sich so stehen lassen. Dann nämlich kippt die Stimmung, der Täter wird wütend, wüste Beleidigungen werden ausgesprochen - in seiner Welt war die Äußerung doch nur ein Kompliment.


In Alea haben diese Worte Unbehagen und Angst ausgelöst - das Gesagte als Kompliment einzuordnen, ist ihr in diesem Kontext unmöglich. Genau hier liegt der entscheidende Punkt. Alea ist diejenige, die entscheidet, wann sie eine Äußerung als Kompliment empfindet - niemand sonst. Im Allgemeinen sind sich die meisten von Catcalling Betroffenen einig, was ein Kompliment ist und ungefragte Kommentare -besonders von unbekannten Menschen - bezüglich des Aussehens, Aufforderung zum Sex und Pfiffe gehören schlichtweg nicht dazu. Die Gefühle, die ein solches Verhalten auslöst zu ignorieren und damit den Betroffenen die Entscheidung abzusprechen, ob die Situation in Ordnung ist und deshalb unbeirrt weiter zu catcallen, ist ignorant und eine bewusste Machtdemonstration. Die Häufigkeit, mit der verbale Übergriffe dieser Art verübt werden und die fließenden Übergänge zu physischen beziehungsweise anderen sexualisierten Übergriffen zeigen, dass ein strukturelles Problem besteht und sich diesem systematisch - also auch mit Gesetzen - genähert werden sollte. Diese Erkenntnis setzt sich immer mehr durch, so dass es 2016 eine von Betroffenen und Expert*innen nachdrücklich geforderte Verschärfung des Sexualstrafrechts gab. (Erst) seitdem ist es möglich, nicht nur Vergewaltigung und sexuelle Nötigung, sondern auch ungewolltes Anfassen zur Anzeige zu bringen. Diese neue Regelung findet sich in §184i StGB, welcher besagt, dass sich die Person strafbar macht, die eine andere in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt.


Eine weitere Entwicklung in die richtige Richtung stellt die 2018 in Deutschland in Kraft getretene Istanbul Konvention dar. Sie nimmt eine rechtsverbindliche Definition von geschlechtsspezifischer Gewalt vor. Darunter fallen alle Handlungen geschlechtsspezifischer Natur, die zu körperlichen, sexuellen, psychischen oder wirtschaftlichen Schäden beziehungsweise Leiden bei Frauen führen oder führen können. Von geschlechtsspezifischer Natur ist dann die Rede, wenn sich diese Handlungen gegen eine Frau richten, weil sie eine Frau ist oder wenn sie Frauen unverhältnismäßig stark betreffen. Mit dieser Definition als Grundlage, sind Verschärfungen des Sexualstrafrechts in Bereichen, die hauptsächlich Frauen betreffen, möglich. So fallen “Upskirting” und “Downblowsing - also heimliche Bildaufnahmen unter den Rock und/oder in den Ausschnitt einer Frau - unter diese Definition und sind in Deutschland seit kurzem strafbar.


Beim Thema Catcalling drängt sich nun die Frage auf, ob diese Form von sexualisierter Belästigung nicht genauso unter die Definition der geschlechtsspezifischen Gewalt fällt.

Momentan gilt in Bezug auf Catcalling allerdings: Sprüche klopfen, Pfeifen, einfach nach Sex fragen und Körperteile kommentieren erfüllt keinen Straftatbestand. Ein solcher besteht erst, wenn andere Straftaten hinzukommen, wie im Falle einer in § 185 StGB geregelten Beleidigung. Diese ist dann erfüllt, wenn eine Aussage Missachtung zum Ausdruck bringt und somit herabwürdigend ist. Ob eine Äußerung als Beleidigung eingestuft wird, entscheidet aber nicht etwa die betroffene Person, sondern ein Gericht. Wer den Fall von Renate Künast in den Medien verfolgt hat, weiß, wie lange es dauern kann, bis ein Online-Kommentar wie „Drecks Fotze“ (sic) als herabwürdigend und somit als Diffamierung anerkannt wird. Im Gegensatz dazu werden bei der Aussage „Du Mädchen“, gerichtet gegen einen Polizisten, 200 Euro fällig – wegen Beleidigung. Eine Schelmin, wer hier an Misogynie und Sexismus denkt.


Angesichts dieser Umstände gehen Betroffenen die aktuellen Regelungen des Strafgesetzbuches nicht weit genug, eine von ihnen ist Antonia Quell. Sie hat die Petition „Es ist 2020, Catcalling sollte strafbar sein“, die sich an Christine Lambrecht (Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz), Franziska Giffey (Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) und die Bundesregierung richtet, gestartet und insgesamt 69444 Unterstützende gewonnen. Das sind mehr als genug, um sie vor den zuständigen Bundesausschuss zu bringen. Damit ist sichergestellt, dass die Thematik politisch wahrgenommen und diskutiert werden muss. Eine Voraussetzung dafür, dass es vielleicht irgendwann eine (straf)gesetzliche Regelung geben kann. Neue Regelungen könnten sich beispielsweise an Gesetzen in Frankreich orientieren. Hier steht Catcalling unter Strafe, auf die Täter*innen warten hohe Bußgelder.


Die rechtliche Unsicherheit über eine Sache, die täglich weltweit und auch in Deutschland stattfindet, hat dazu geführt, dass Aktivist*innen einen Weg gefunden haben, anderweitig auf das Problem aufmerksam zu machen. In fast jeder (großen) deutschen Stadt gibt es mittlerweile einen Catcalling Instagram-Account. Der Ursprung der Bewegung liegt in New York, wo das erste Projekt dieser Art 2016 gestartet wurde und von dort seinen Zug um die Welt begann. Betroffene können die erlebten Geschichten einschicken, die Betreiber*innen der Accounts ziehen dann mit Kreide ausgestattet los und kreiden das Geschehene an den Tatorten auf dem Asphalt an. Direkt vor Ort wird so der eingenommene Raum zurückgefordert und den Gecatcallten eine Stimme gegeben. Durch die anschließenden Posts auf Social Media entsteht ein Bewusstsein für die Häufigkeit und Heftigkeit des Problems. Die Aktivist*innen bekommen unglaublich viele Vorfälle zugeschickt und erleben sehr viel positives Feedback sowohl online als auch offline beim „Ankreiden”. Dennoch, genau hier zeigt sich, wie wenig das deutsche Recht noch immer auf Bereiche eingeht, die hauptsächlich weiblich gelesene Menschen betreffen.


Das Beschreiben der Straße mit abwaschbarer Straßenmalkreide ist eine Grauzone, kann also mit der Begründung der „Sondernutzung der Straße“ untersagt und mit Bußgeldern geahndet werden, es handelt sich dann um eine Ordnungswidrigkeit.

Jemandem ungefragt offensichtlich sexuell motivierte Äußerungen hinterherzubrüllen ist rechtlich gesehen also okay - mit Kreide, die nach dem nächsten Regen weggewaschen ist und auf Gehwegen nicht stört, darauf aufmerksam zu machen, ist unter Umständen aber nicht zulässig und in Gesetzen akribisch geregelt. Die Aktivist*innen lassen sich davon oft nicht abschrecken und nehmen rechtliche Konsequenzen in Kauf.


Nach dem Übergriff ist auch Alea der Catcalling-of-Gruppe in ihrer Stadt beigetreten. Gerade schreibt sie gemeinsam mit einer Freundin eine Geschichte auf den Boden, als sich ihnen ein Mann mittleren Alters nähert. Er stellt sich zu dicht neben sie und liest die Botschaft. „Aha, und mit sowas verbringt ihr eure Freizeit, da gibt‘s doch tausend wichtigere Sachen“, kommentiert er ungefragt, schlendert weiter, schiebt noch ein „ihr dürft uns das nicht übelnehmen, Männer sind halt so“ hinterher und dreht sich grinsend weg. Für Alea und ihre Freundin ist das eine weitere der vielen bereits erlebten Situation in der Öffentlichkeit, in der sie sich unbehaglich fühlen. Und da ist sie wieder: Die asymmetrische Verteilung der Macht.


*Name geändert


Am 8. März war Internationaler Frauentag. Anlässlich dessen veröffentlichen wir eine Woche lang Artikel zum Thema Gleichberechtigung, Frauen und Frauenrechte. Der hier veröffentlichte Artikel stammt aus der Printausgabe "Sex & Macht". Mehr könnt ihr hier lesen.


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