top of page
Suche

Juristischer Protest: Mit dem Recht gegen das Recht? Ein Gespräch mit Nora Markard.


Nora Markard ist Professorin für Internationales Öffentliches Recht und Internationalen Menschenrechtsschutz an der Universität Münster. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem im Verfassungsrecht, dem Völkerrecht und der kritischen Rechtsforschung. Als besonders engagierte Professorin setzt sie sich für politische und gesellschaftliche Themen ein - unter anderem als Mitglied des Vorstands der GFF, der Gesellschaft für Freiheitsrechte. In einem Kreuzberger Innenhof trinken wir Cappucino und sprechen über die Arbeit der GFF, das Fortschrittspotential des Rechts und zynischen Idealismus.


Interview: Marie Müller-Elmau


Rechtverblüffend: Frau Markard, Sie sind Vorständin und Mitgründerin der Gesellschaft für Freiheitsrechte, der GFF. Können Sie kurz erklären, was die GFF ist und was Sie dort machen?

Nora Markard: Die GFF versteht sich als Rechtsschutzversicherung des Grundgesetzes. Wir sind eine Organisation, die mit den Mitteln der strategischen Prozessführung dazu beiträgt, die Einhaltung der Grund- und Menschenrechte in Deutschland durchzusetzen. Unser Ziel ist es, durch Prozesse die Gesellschaft gerechter zu machen und Impulse zu einer gesellschaftlichen Diskussion zu geben. Oft können Prozesse darstellen, welche strukturellen Probleme hinter einer Kontroverse stehen. Diese sind mit dem einen Prozess womöglich zwar nicht zu lösen, doch kann er aufzeigen, wo man ansetzen muss.

Manchmal gibt es ein Missverständnis, dass wir so tun würden, als ob man gesellschaftliche Kontroversen lediglich als „Rechtsprobleme“ darstellen und vor Gerichte tragen müsste, die einem dann zustimmen und danach ist alles gut. Das stimmt natürlich nicht. Strategische Prozessführung ist nur eins von vielen Instrumenten im Werkzeugkasten des gesellschaftlichen Protests..

In der Regel geht es um Fälle, in denen zivilgesellschaftliche Akteure merken, dass sie mit den Mitteln des politischen Protests nicht mehr weiterkommen, in den Gesetzgebungsverfahren bestimmte Probleme einfach übergebügelt werden oder der Gesetzgeber sich blind stellt. Zum Beispiel verstößt der Gesetzgeber in Sachen Überwachungsstandards immer wieder sehenden Auges gegen Unions- oder Verfassungsstandards. Organisationen wie Reporter ohne Grenzen oder Amnesty International stellen das natürlich ständig fest. Aber wenn das Bundesverfassungsgericht es mit ihnen sagt, ist es nochmal überzeugender. An diesem Punkt kommen wir dazu und ermöglichen es ihnen, die politische Aktion mit rechtlichen Mitteln zu flankieren.

Rechtverblüffend: Wie gehen Sie vor? Wie stellen Sie also eine Ungerechtigkeit im Gesetz fest und wählen dann die Fälle aus?

Nora Markard: Es ist ganz unterschiedlich, wie die Fälle zu uns kommen: durch NGOs, durch Kläger*innen oder eben durch eigene Intiative. Die Herausforderung für uns ist, zwischen all den Dingen, die man mit Recht tun könnte, auszuwählen. Deshalb müssen wir sehr gezielt überlegen, welche Bereiche gerade besonders wichtig sind, welche Fälle wir für vielsprechend halten oder wo wir mit Expertise etwas beitragen können. Aktuell engagieren wir uns in vier Bereichen: einer starken Zivilgesellschaft, digitalen Grundrechten, Freiheit von Diskriminierung und sozialer Gerechtigkeit.

Rechtverblüffend: Ist also die Selektion von den Fällen und Kläger*innen das Strategische an Ihrer Arbeit?

Nora Markard: Genau. Ausgangspunkt ist die Frage, wo eine gerichtliche Grundsatzentscheidung überhaupt eine Verbesserung herbeiführen könnte. Im Asylrecht ist es zum Beispiel so, dass es ständig massive Rechtsverstöße gibt. Dies liegt aber nicht daran, dass es keine Leitentscheidungen gäbe – die Standards sind vielfach eigentlich klar. Die Behörden halten diese aber trotzdem nicht ein. In dem Bereich ist strategische Prozessführung also nur sehr begrenzt sinnvoll. Das heißt, man muss sich fragen, ob es ein Problem ist, das man mit einer Leitentscheidung angehen kann. Eine zweite Frage kann sein, in welchem Forum man an das Problem rangeht, beispielsweise zivilrechtlich oder öffentlich-rechtlich, oder ob und wie wir versuchen sollten, eine Vorlage an den EuGH zu kriegen. Und dann geht es natürlich um die Beschwerde-führende Person und ihren sogenannten „persönlichen Sachverhalt“. Dieser muss das strukturelle Problem auf den Punkt bringen. Der Fall sollte sich also zum Beispiel nicht darin erschöpfen, dass eine Einzelperson ungerecht behandelt worden ist, zentral ist, dass er Ausstrahlungswirkung hat. Die Idee ist ja, dass dann andere wieder individuell darauf aufbauen können.

Rechtverblüffend: Warum ist Ihre Arbeit in Deutschland so besonders?

Nora Markard: Ich weiß gar nicht, ob sie so besonders ist. Es gibt natürlich viele Anwält*innen, die in ihren jeweiligen Arbeitsbereichen schon sehr viel Erfahrung damit hatten, Leitentscheidungen herbeizuführen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Bereich der Lebenspartnerschaften: Mit der Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes sind sehr viele Bereiche mit der Gleichstellung der Ehe ausgenommen worden. Anwält*innen haben dann immer wieder Leitentscheidungen vom Bundesverfassungsgericht erwirkt, die eine Serie von Verfassungswidrigkeiten festgestellt haben, bis der Gesetzgeber sich dann dazu entschlossen hat, die Ehe einfach zu öffnen. Das ist natürlich strategische Prozessführung – wir haben das ja nicht erfunden. Wir unterscheiden uns davon vor allem dadurch, dass wir versuchen, eine Organisation aufzubauen, die inhaltlich in die Breite geht und die außerdem mit langem Atem hinter all diesen Fällen stehen kann – damit es nicht immer von einzelnen Personen und ihren Kapazitäten abhängt, ob zum Beispiel ein kompliziertes Abhörgesetz vor Gericht kommt. In Deutschland sind wir zwar nicht die einzige Organisation, die sowas macht; bisher hat sich aber niemand systematisch dem Bereich der Grund- und Menschenrechte in Deutschland gewidmet. Diese Lücke füllen wir jetzt.

Rechtverblüffend: Würden Sie ihre Arbeit als juristischen oder rechtlichen Widerstand bezeichnen?

Nora Markard: Widerstand ist vielleicht ein etwas zu weiter Begriff für das, was wir machen, weil wir ja systemintern agieren. Ziel der GFF ist es, die Mittel, die das System nun mal bereitstellt, zu nutzen. Wir versuchen also, aus dem System das rauszuholen, was geht. Damit kann man aber natürlich auch über das System hinaus verweisen, gerade indem man Fälle anstrengt, die das System „sprengen“ – ein gutes Beispiel sind die Klimaklagen.

Aus der Sicht der Betroffenen ist es aber schon oft auch eine Art Widerstands-Erfahrung, das Gefühl zu haben, dass das Recht etwas ist, mit dem sie etwas machen können. Plötzlich bekommen sie die Position eines Akteurs. Die Frauen, die als Ko-Mütter dagegen klagen, dass sie ihre eigenen Kinder adoptieren müssen, weil sie nach dem BGB nicht automatisch auch als „Mutter“ eingetragen werden oder die Ko-Mutterschaft anerkennen können, haben den Prozess als sehr ermächtigend empfunden. Anstatt sich nur zu beklagen, konnten sie mit dem Recht quasi „zu den Waffen greifen“. Sich mit den Mitteln des Rechts zu wehren, ist also eine Möglichkeit, die sehr machtvoll sein kann.

Die Ambivalenz des Rechts, einerseits den Status quo zu schützen, aber auch ein Forum zu bieten, den Status quo mit rechtlichen Mitteln angreifen zu können, öffnet Räume für Protest innerhalb dieser Foren. Dadurch, dass das Recht die Illusion erzeugt, dass man auf Augenhöhe miteinander interagiert, heißt das auch, dass marginalisierte Stimmen in diesem Rechtsdiskurs tatsächlich gehört werden und sich durchsetzen können.

Rechtverblüffend: Ist Protest mit dem Recht oder durch das Recht also besonders effektiv?

Nora Markard: Ja und Nein. Im Grunde sind Gerichte Veto-Spieler, die einem politischen Prozess Grenzen ziehen. Wenn man das in einem Prozess schafft, hat man sehr viel erreicht – jedenfalls fürs Erste. Natürlich wissen wir auch, dass politische Akteure sich überlegen, wie sie die Grenzen umgehen können. Wenn es gelingt, eine Entscheidung zu erzielen, mit der etwas Problematisches für verfassungswidrig erklärt wird, ist das ein großer Erfolg, den man politisch vielleicht nicht in der Weise hätten herbeiführen können. Gleichzeitig ist das Recht aber auch stark begrenzt, weil es nur bestimmte Dinge sichtbar machen kann. Die Sprache des Rechts ermöglicht es nur, rechtsförmig vorgetragene Argumente zu diskutieren. Wenn man versucht, etwas zu thematisieren, das im Recht keinen Platz hat, wird man damit scheitern.

Zum Beispiel die Klimaklagen: Das ist ein Versuch, zu zeigen, dass nicht genug gemacht wird – diese Passivität führt zu Umweltschäden, die zu Gesundheitsschäden führen und dadurch rügen die Beschwerdeführer*innen die Verletzung ihres Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Das ist aber ein Argument, das rechtlich sehr wenig Aussicht auf Erfolg hat. Rechtlich kommt man an diesen Bereich also nur sehr schwer ran. Das Recht tut dem Sachverhalt gewissermaßen eine epistemische Gewalt an, indem gewisse Dinge abgeschnitten werden oder Menschen gezwungen werden, in rechtsförmigen Kategorien zu argumentieren, obwohl sie sich damit nicht wohl fühlen. Das wird zum Beispiel beim feministischen Dilemma deutlich: Die Kategorie „Frau“ muss immer wieder thematisiert werden um zu zeigen, dass der Status quo für Frauen ungerecht ist, obwohl man eigentlich sagen will, dass das keine Rolle mehr spielen sollte. Insofern ist es widersprüchlich und ambivalent. Das Recht ist eben ein Mittel, das man strategisch nutzen kann, aber allein reicht es nicht: erst wenn sich auch ein gesellschaftlicher Prozess vollzieht, naturalisierende Annahmen infrage zu stellen, wird das zum Beispiel auch erfolgreich als Gleichheitsverstoß artikuliert werden.

Rechtverblüffend: Nachdem Sie all diese Schwierigkeiten dargestellt haben, frage ich mich: Muss man für Ihren Beruf, also vor allem für Ihre Tätigkeit bei der GFF, sehr idealistisch sein?

Nora Markard: (lacht) Wahrscheinlich schon. Was zentral ist, ist der Glaube, dass man etwas verändern kann, mit den Mitteln, die man hat. Oder, dass es zumindest irgendwie gelingen muss, Räume zu eröffnen, um mehr zu fordern und zu skandalisieren. Wenn man nicht glaubt, dass das irgendeine Wirkung haben könnte, kann man es gleich lassen. Ist man überzeugt, dass die Gerichte eh die Büttel der herrschenden Interessen sind, würde man nicht so eine Organisation wie die GFF gründen. Ein gewisser Idealismus gehört also dazu. Ich glaube aber, alle von uns haben Klarheit darüber, dass das, was wir erreichen können, begrenzt ist. Unter anderem bin ich im internationalen Recht unterwegs – dort werden zum Beispiel wenige glauben, dass der Internationale Strafgerichtshof jemals westeuropäische Staaten wegen Kriegsverbrechen verurteilen wird. Das müsste er eigentlich tun, und es wird immer wieder eingefordert. So wird auch die Sprache des internationalen Strafrechts benutzt, um Taten, die britische, US-amerikanische oder auch deutsche Soldaten im Ausland begehen, als Verstöße gegen das internationale Recht zu brandmarken. Gleichzeitig ist klar, dass der Strafgerichtshof dies nicht tun wird, obwohl er es müsste. Irgendwo zwischen diesem Idealismus und Zynismus gibt es einen Raum, in dem man gucken muss, was geht, „pushing the boundaries“.

Rechtverblüffend: Das ist interessant. Es gibt die Konzeption, dass nur eine gewisse gesellschaftliche Schicht Jura studiert, und all diese Ämter deshalb schlussendlich auch nur von einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht besetzt sind. Sehen Sie also die Vertretung von marginalen Gruppen durch bestimmte Jurist*innen als ein Problem?

Nora Markard: Total. Wenn ich mir angucke, wer Jura studiert und am Ende Entscheidungspositionen besetzt, dann sind das Leute aus der gehobenen oder Mittelschicht, die mit einem bestimmten Habitus und kulturellen Codes vertraut sind. Auch kulturell wird es für Personen aus der sogenannten Arbeiterklasse immer wieder als schwierig empfunden, sich dort wohl, sicher und zugehörig zu fühlen. Das ist ein Problem, das wir nach wie vor massiv haben, außerdem fehlt es auch sonst in den Unis sehr an Diversität. Deshalb empfinden viele Leute, mit denen ich rechtspolitisch zusammenarbeite, die privilegierte Position, die sie haben, auch als Verantwortung, diese Räume zu öffnen und nicht nur für sich selbst zu nutzen. Dabei stellt sich immer die Frage, ob man sich anmaßt, für Andere zu sprechen. Aber ich denke, wenn man mit anderen gemeinsam arbeitet und in diesen Rechtskämpfen versucht, ihnen die eigenen Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen, ist das ein Weg, der funktionieren kann.

Rechtverblüffend: Haben Sie es in Ihrer Arbeit als frustrierend empfunden, dass die Richterinnen und Richter, die vor Ihnen sitzen, die Situationen, die man beklagt, womöglich nicht wirklich nachvollziehen können?

Nora Markard: Es gibt Forschung zur Klassenjustiz, wo untersucht wurde, wo Richter*innen herkommen und wie sie argumentieren. Dabei ist rausgekommen, dass sie nicht unbedingt so entscheiden, wie man das vielleicht politisch erwarten wird. Ich glaube aber trotzdem, dass ein Mangel an Diversität auch in der Justiz ein Problem ist. Frauen sind mittlerweile tatsächlich eher über-repräsentiert, jedenfalls in den unteren Instanzen, gleichzeitig gibt es weiterhin einen erheblichen Mangel an Diversität was einen proletarischen Lebenshintergrund oder auch religiöse und damit verbundene kulturelle Diversität angeht. Durch den Umstand, dass Frauen mit Kopftuch heute nicht mehr als Referendarin tätig werden können, und daher wohl auch als Richterin kein Kopftuch tragen werden dürfen, wird eine gewisse Diversität abgeschnitten. Es signalisiert auch: Das gehört uns, und ihr gehört hier nicht hin.

Rechtverblüffend: Was motiviert Sie, trotz der sicherlich auch vorkommenden Rückschläge im politischen und gesellschaftlichen Engagement weiterzumachen?

Nora Markard: Gerade im Asylrecht ist es wirklich schwierig, immer wieder aufzustehen. Gleichzeitig habe ich gemerkt, dass die rhetorische Grenzziehung wegen verletzter Grundrechte eine ganz wichtige politische Funktion hat. Die Berufung auf die rechtlichen Argumente hat eine besondere Kraft, Leute zu überzeugen, die politisch möglicherweise Zweifel haben. Wenn man sie auf Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit hinweist, sind die meisten grundsätzlich von deren Relevanz und Bedeutung überzeugt. Damit kann man Leute also packen, weil sie sich rechtlichen Argumenten gewissermaßen nicht entziehen können. Die wenigsten sagen dann „Na und?“. Deshalb kann es wichtig sein, sich aus strategischen Überlegungen heraus in einem bestimmten Forum auf rechtliche Argumente zu beschränken und anderen die politisch-moralischen Forderungen zu überlassen.


Natürlich beschränkt man damit seine Argumentation gewissermaßen. Vielleicht ist aber auch nicht alles unsere Aufgabe. Ich begreife das schon als Arbeitsteilung zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren. Einerseits dafür zu sorgen, dass jedenfalls keine rechtswidrigen Praxen vorkommen. Andererseits politische Prozesse als oft unzureichend auszuweisen. Protest fängt im Gericht nicht an – und hört dort ja auch nicht auf.



bottom of page