Klimaentscheidung des Bundesverfassungsgerichts: die Janusköpfigkeit der Grundrechte
Als Greta Thunberg 2019 beim UN- Klimagipfel in New York zu den Staats- und Regierungschefs „How dare you“ sprach, erschien dies weniger als eine offene Frage, sondern vielmehr als eine unmissverständliche Anklage gegen die weltpolitische Führung: Eine Schülerin, die den mächtigsten Menschen der Welt vorwarf, sie würden mit ihrer trägen Klimapolitik die Lebensgrundlage und die Freiheit aller nachfolgenden Generationen verspielen.
Von Kathrin Kessler

Mit dem von Thunberg initiierten Klimastreik „Fridays for Future“ hat sie Millionen Menschen auf die Straße gebracht. Nun bringen immer mehr Menschen das Thema „Klimawandel“ in den Gerichtssaal. Weltweit werden Industrienationen verklagt, weil die Kläger*innen sich durch deren unzureichende Klimaschutzmaßnahmen in ihren Grund- bzw. Menschenrechten verletzt sehen.
Diese Entwicklung ist auch Zeugnis davon, wie der Mensch in das Zentrum der Debatte um den Klimaschutz gerückt ist. Man spricht nicht mehr nur über schwer greifbare Umweltveränderungen fernab von der Lebenswirklichkeit des Einzelnen, sondern über die Bedrohung des menschlichen Lebens an sich durch immer häufigere Wetterextreme, steigende Meeresspiegel und Umweltzerstörung. Nicht nur aber auch „Fridays for Future“ mit seinen bekannten, jungen und entschlossenen Gesichtern hat es geschafft, die Debatte um die Klimakrise zu humanisieren.
Beeinträchtigungen vs. Verletzungen
Darüber, dass die Folgen des Klimawandels Grundrechte bereits jetzt beeinträchtigen und diese Beeinträchtigungen in Zukunft öfter und schwerwiegender werden, ist man sich einig. Für den Erfolg der Klimaklagen entscheidend ist aber die Frage, ob diese Menschenrechtsbeeinträchtigungen auch als Menschenrechtsverletzungen durch einen Staat qualifiziert werden können. Vor dieser Problematik standen auch die Verfassungsbeschwerden zum Bundes-Klimaschutzgesetz, über die das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 24. März 2021 entschieden hat.
Kann die Gesundheits- oder gar Lebensgefährdung durch einen Dürresommer, eine Sturmflut oder eine wochenlange Hitzewelle auf eine konkrete staatliche Maßnahme zurückgeführt oder jedenfalls dem Staat zugerechnet werden?
Geht man von der klassischen Dimension der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat aus, fragt man sich, worin hier der staatliche Eingriff liegt, wenn Treibhausgase vor allem von privatwirtschaftlichen Akteuren emittiert werden. Die Grundrechte haben aber eine weitere Dimension: Sie erlegen dem Staat Schutzpflichten auf, nach denen er das Individuum vor rechtswidrigen Eingriffen Dritter schützen muss. Denn die privatwirtschaftlichen Emittenten selbst sind grundsätzlich nicht an Grundrechte gebunden.
Auf das Schutzpflichten-Konzept stützen sich zahlreiche Klimaklagen, so zum Beispiel auch sechs portugiesische Kinder und Jugendliche, die 33 europäische Staaten vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen unzureichender Klimaschutzmaßnahmen verklagen.
Der Fall „Urgenda“
Die staatlichen Schutzpflichten sind aber ein heikles juristisches Fahrwasser:
Über den Gerichten schwebt das Damoklesschwert der verfassungsmäßig garantierten Gewaltenteilung, wenn sie dem Staat vorschreiben, wie er die Grundrechte seiner Bürger*innen zu schützen und zu verwirklichen hat. Deutlich wird dieses Problem am Fall „Urgenda“. In diesem Rahmen wurde die niederländische Regierung vom obersten Gericht in Den Haag im Jahr 2019 zu einer Treibhausgasreduktion von mindestens 25 Prozent bis 2020 verurteilt.

Aus der rechtswissenschaftlichen Literatur kam Kritik und Unbehagen – vor allem darüber, dass die Judikative unzulässig in einen Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung eingegriffen habe. Und tatsächlich erscheint ein solches Urteil dem juristischen Blick, selbst wenn er in Anbetracht des fortschreitenden Klimawandels tief besorgt ist, jedenfalls fragwürdig. Woher ist das Gericht demokratisch legitimiert, konkrete Zwischenziele bei der Treibhausgasreduktion vorzuschreiben? Ist ein Gericht für eine solche Wertung aus der wissenschaftlichen Perspektive überhaupt ausreichend ausgestattet? Auf welcher Grundlage kann es festlegen, dass die Emissionen um exakt 25 Prozent reduziert werden müssen und nicht um 24? Oder 26?
Aus genau diesen demokratietheoretischen Bedenken heraus wurden andere Klimaklagen, so zum Beispiel der medienwirksame Fall „Youth v. Government“ in den USA bereits als unzulässig abgewiesen.
Aber wie begegnet das Bundesverfassungsgericht diesen Fragestellungen in seiner Entscheidung, die von so vielen Menschen in Deutschland begrüßt, ja gar gefeiert wurde?
Entsprechend seiner ständigen Rechtsprechung stellt es erst einmal grundsätzlich fest:
Aus Art. 2 II 1 GG folge eine Schutzpflicht des Staates, „sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit zu stellen und sie vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren“. Diese Schutzpflicht sei auch Teil der subjektiven Grundrechtsberechtigung und könne also eingeklagt werden (Rn. 145). Das ist erstmal nichts neues. Dann aber benennt es – auf abstrakter Ebene – überraschend hohe Anforderungen an die Ausgestaltung dieser Schutzpflicht. So verlange die globale Dimension des Klimawandels ein international ausgerichtetes staatliches Handeln.
Mehrere beklagte Regierungen brachten in Verfahren zum Klimaschutz die globale Dimension als Argument dafür ein, dass durch den Klimawandel entstehende Grundrechtsbeeinträchtigungen nicht einem einzelnen Staat zugerechnet werden können.
Am Beispiel Deutschland: Dessen Treibhausgasemissionen machen im weltweiten Vergleich etwa zwei Prozent aus. Der deutsche Staat kann also Grundrechtsbeeinträchtigungen durch den Klimawandel selbst durch eine drastische Emissionsminderung nicht unbedingt verhindern. Das Bundesverfassungsgericht aber konkretisiert anhand dieser Tatsache den Inhalt der grundrechtlichen Schutzpflicht: Der Staat müsse gerade im Rahmen internationaler Abstimmung auf Klimaschutzaktivitäten hinwirken, um seine Schutzpflicht zu erfüllen (Rn 149).
Potentielle Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel
Ein weiterer Einwand, der von Kritiker*innen der Klimaklagen hervorgebracht wird, ist die Möglichkeit von Anpassungsmaßnahmen. Ein Gericht könne nicht Emissionsminderungen als einzigen Weg anordnen, auf dem es dem Staat möglich sei, die Grundrechte seiner Bürger*innen vor den Auswirkungen des Klimawandels zu schützen. Auch durch Anpassungsmaßnahmen – gerade mit Blick auf zu erwartende technische Fortschritte – könne er seiner Schutzpflicht Rechnung tragen. Das Bundesverfassungsgericht stellt jedoch fest: Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel müssen Minderungsmaßnahmen ergänzen, können sie aber nicht ersetzen. Damit wird der Spielraum des Staates bei der Erfüllung seiner Schutzpflicht wiederum begrenzt (Rn 150).
Das Bundesverfassungsgericht konstatiert also auf abstrakter Ebene: Der Staat hat eine Schutzpflicht auch in Bezug auf Grundrechtsbeeinträchtigungen durch den Klimawandel – und wie diese zu erfüllen ist, konkretisiert es ziemlich genau. Entscheidend ist aber: Es nimmt für den konkreten Fall, nämlich für die Vorschriften des Bundes-Klimaschutzgesetzes, gerade nicht an, dass diese offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich seien, um ebenjene Pflicht zu erfüllen, sondern wählt einen anderen Weg, um dieses für teilweise verfassungswidrig zu erklären.
Den Emissionsmengenregelungen, die das Bundes-Klimaschutzgesetz bis 2030 macht – und den Vorgaben, die es ab 2031 nicht macht – attestiert es eine eingriffsähnliche Vorwirkung (Rn. 187) und kann damit in einer solch hochpolitischen Entscheidung auf die „wohlbekannte“ Dimension abstellen: Die Grundrechte als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe.
Es hat nämlich eine ganz andere Qualität, ob ein Gericht sagt „Du, Staat, tust nicht genug, um die Grundrechte deiner Bürger*innen zu verwirklichen. Wir schreiben dir jetzt konkret vor, was Du dafür tun musst“ oder „Du, Staat, greifst durch deine eigenen gesetzgeberischen Entscheidungen in die Grundrechte deiner Bürger*innen ein. Wir haben – so wie es eben die Aufgabe von Verfassungsgerichten ist - überprüft, ob dieser Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist“.
„Du, Staat, tust nicht genug, um die Grundrechte deiner Bürger*innen zu verwirklichen."
Indem es eine Verletzung von Freiheitsrechten feststellt, übernimmt das Bundesverfassungsgericht nicht die Führung eines notwendigen gesellschaftlichen Umbaus, sondern bestimmt die rechtlichen Verhältnisse, an denen sich die politischen Entscheidungsträger bei der Bewältigung dieser Aufgabe orientieren müssen.
Durch seine Argumentationsweise kann es sogar diejenigen Menschen abholen, die genervt sind von der „grünen Predigt über die Enthaltsamkeit“ und die nicht von einem Tag auf den anderen aufhören wollen, Auto zu fahren und Fleisch zu essen. Gerade weil der Gesetzgeber jetzt so viel Freiheit beim Emittieren zulasse, müssten die Bürger*innen zukünftig (nämlich ab 2031, und so lange ist das nicht mehr hin) erhebliche Freiheitseinbußen hinnehmen (Rn 192).
Denn trotz verbleibender wissenschaftlicher Unsicherheiten ist man sich über eines einig: Für das 1,5 Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens, das der Bundesgesetzgeber dem Klimaschutzgesetz selbst zugrunde gelegt hat, bleibt uns ein nur endliches Emissionsbudget. Je mehr jetzt emittiert wird, desto drastischer muss dann reduziert werden – und bisher fußt ein großer Teil des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens ohne wirklich zumutbare Alternativen auf der Verwendung fossiler Brennstoffe. Der Gesetzgeber hätte also Vorkehrungen treffen müssen, die einen weniger freiheitsbelastenden Übergang zur Klimaneutralität ermöglichen.
Was macht der EGMR?
Den Kritiker*innen der Klimaklagen, die den Beschwerdeführenden vorwerfen, die Prozesse strategisch zu führen und durch eine Verwischung der Gewaltenteilung letztlich allen rechtstaatlichen Institutionen zu schaden, ist mit der Linie des Bundesverfassungsgerichts einiges an Wind aus den Segeln genommen. Und außerdem: Dass die Sorge um ihre Zukunft und ihre Lebensgrundlagen die Bürger*innen zu den Institutionen des Rechtsstaats geführt hat, ist vielmehr ein Glaubensbekenntnis an die Demokratie.
Abzuwarten bleibt nun, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht (EGMR) über die ihm vorgebrachte Klimaklage entscheiden wird. Ihm wurde nämlich kein konkretes Gesetz zur Überprüfung vorgelegt, sondern die Nichtanwesenheit adäquater gesetzlicher und administrativer Klimaschutzmaßnahmen. Um eine Bewertung nach Maßgabe der grundrechtlichen Schutzpflichten wird er wohl nicht herumkommen.