Kunst&Krise: Über die Kunst, näher an das Herz der Oper zu gelangen
„Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann.“ Dieses Zitat von Antonio Gramsci schickte mir mein Interviewpartner Jan Schmidt-Garre vor einigen Tagen. Unser Gespräch liegt schon einige Zeit zurück, gleichwohl beschäftigt ihn das Phänomen der Krise nachhaltig. Welcher Moment in unserem Dialog hat sein Interesse an dem Zusammenhang von Kunst und Krise derart geweckt?
Regisseur*innen zeichnen sich dadurch aus, dass sie stets die Fäden in der Hand behalten. Sie übernehmen in der Kunst mithin die Rolle des Architekten, planen und strukturieren detailliert Inszenierungen und lenken dabei das Werk in seiner Gesamtheit. Was passiert nun, wenn Jenen die Fäden jäh entrissen werden, und unvorhergesehene Ereignisse ihre Pläne und Konzepte durchkreuzen? Anders gefragt – wie können diese zuvor noch Regierenden in Zeiten der Krise standhalten?
Jan Schmidt-Garre, geboren 1962, studierte Philosophie und Regie in München. Er gründete 1988 die Produktionsfirma Pars Media. Die daraus hervorgehenden Dokumentar- und Spielfilme zu den Themenfeldern Musik und Kunst, u. a. “Celibidache“, “Bruckners Entscheidung“, “Belcanto“, “Der Gefesselte“, “Furtwänglers Liebe“ und “Der atmende Gott“ sind heute international renommiert und zeichneten Schmidt-Garre vielfach aus. So wurde der Dokumentarfilm "Celibidache – Man will nichts, man lässt es entstehen", über seinen einstigen Lehrer, den Dirigenten Sergiu Celibidache, für den Deutschen Filmpreis nominiert und unter anderem beim Chicago International Film Festival preisgekrönt. Schmidt-Garre inszeniert zudem regelmäßig Opern.
Ich treffe Jan in München, in einem lauschigen Schwabinger Hinterhof. Wir sprechen über seinen Werdegang hin zur Regie, Musik in Krisenzeiten und über Entwicklungen in der Oper. Schmidt-Garre ist vorbereitet: Er hat eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen – letzterem wird er sich aber kaum widmen, denn auch wenn er erzählt, regiert er - mit feingliedrigen Gesten.
Interview: Elisabeth Tscharke

Rechtverblüffend: Jan, du durftest im Laufe deiner Karriere viele beeindruckende Künstler*innen kennenlernen, darunter Leonard Bernstein, Anne-Sophie Mutter, Sergiu Celibidache, um nur einige wenige Namen zu nennen. Wenn du heute Abend mit einem von ihnen zu Abend essen könntest – welchen würdest du wählen und wieso?
Schmidt-Garre: (Ohne zu überlegen) Bernstein.
Rechtverblüffend: Wieso?
Schmidt-Garre: Weil er einfach eine so wunderbare Persönlichkeit war. So ein unglaublich herzlicher, offener, interessanter, schillernder Typ. Unheimlich intelligent, was man nicht denkt, weil er so ein impulsiver, leidenschaftlicher Künstler war, aber er war sehr sehr smart, hatte total Sinn für Wortspiele und war sehr schnell im Kopf, also es war ein Riesenspaß mit ihm. Viel Humor. Er hat immer gesagt ich hätte keinen, das tat mir leid, ich glaube es lag an meinem schlechten Englisch (lacht). Denn ich glaube ich hatte eigentlich schon einen Draht zu ihm.
„Dass Musik direkt umweglos in einen einsickert, ohne, dass man sich dazu etwas denken muss, ohne, dass man etwas übersetzen muss im Kopf, ist klar, da sie eben direkt emotional wirkt.“
Rechtverblüffend: Du bist das, was man den interdisziplinär schaffenden Künstler nennt. Du bist auf vielen künstlerischen Gebieten zuhause und – würde ich bei “Wer wird Millionär sitzen“ und es käme eine Frage, dich ich nicht beantworten könnte, wärst du wohl mein Telefonjoker –
Schmidt-Garre: Ja, aber nicht für Sport oder so.
Rechtverblüffend: Ganz klassisch bist du Regisseur und Produzent. Lass uns über diesen Bereich anschließend sprechen, aber vielleicht erst über ein Genre reden, das dir ganz besonders am Herzen liegt: Musik. Wenn man wohl eines über dich sagen kann, dann, dass du einer der größten Musikliebhaber bist. Alles was du tust, bringt dich zurück zu ihr, alles beginnt mit ihr. Was fasziniert uns an Musik eigentlich? Wieso kommen Menschen immer wieder zusammen, um Musik zu machen, zu hören – das ist ja fast schon eine philosophische Frage.
Schmidt-Garre: (nach langem Überlegen) Hm. Da fallen mir so viele Antworten ein, die aber alle nicht ausreichen. Zum Beispiel fällt mir etwas ein, das Celibidache immer gesagt hat: Dass man in der Musik mathematische Phänomene unmittelbar erleben kann. Zum Beispiel das Zahlenverhältnis von 2:3, was ja ein sehr scharfer Gegensatz ist. Das erlebst du unmittelbar in der Quint, jeder hört, ob eine Quint rein ist oder ob sie nicht rein ist. Auch unmusikalische Leute. Das würden sie zwar bestreiten, aber wenn man es ausprobiert, würde es sicher klappen. Auch rhythmisch ist 2:3 ja ziemlich schwer. Ich weiß noch, am Klavier habe ich mich da anfangs sehr schwergetan – erste Arabesque von Debussy - und irgendwann hatte ich es, und dann war ich sehr glücklich, und dann ist es auch nie wieder weggegangen. Oder auch bei Brahms gibt es das ja sehr viel. Also solche Phänomene, dass man die unmittelbar erlebt, direkt erfährt, das ist toll.
Und dann fallen mir natürlich die ganzen Plattitüden ein: Dass Musik direkt umweglos in einen einsickert, ohne, dass man sich dazu etwas denken muss, ohne, dass man etwas übersetzen muss im Kopf, ist klar, da sie eben direkt emotional wirkt.
Rechtverblüffend: Ich finde es sehr spannend, Künstler*innen zu fragen, wann Musik ihren ganz persönlichen Weg gekreuzt hat. Könntest du uns deine erste konkret wahrgenommene Begegnung mit Musik erläutern?
Schmidt-Garre: Ich komme aus einer musikalischen Familie. Mein Vater war Komponist und dann später Journalist, meine Mutter ist Kulturjournalistin. Die haben mich sicher die ganze Zeit mit Musik bearbeitet und versucht, mich dahin zu bringen. Daran kann ich mich aber nicht mehr so gut erinnern, außer, dass sie mich als Kind mit in die Oper genommen haben.
Woran ich mich aber erinnern kann, ist, dass ich in der zweiten Klasse in der Schule ein Stück gehört habe, was mich total begeistert hat. Ich bin dann nach Hause gekommen und hab es meinen Eltern vorgesungen und zum Glück haben sie es erkannt und haben gesagt das sei das erste Klavierkonzert von Tschaikowski. Und von da an war ich Tschaikowski-Fan und habe dann wahnsinnig viel Tschaikowski gehört. Das hat sich dann erweitert auf alle Russen der Zeit, also auch auf Mussorgski und Rimski-Korsakow als ich so zwölf war vielleicht. Und dann wurde es halt ganz breit. Aber das war tatsächlich der Einstieg.
Rechtverblüffend: Die Erfahrung war also erstmal rein auditiv?
Schmidt-Garre: Klavier gespielt habe ich auch immer. Auch sehr gerne. Ich habe allerdings nie rein technisch geübt, deshalb bin ich wahnsinnig schlecht, was manuelle schnelle Läufe oder sowas angeht. Aber ich kann sehr gut vom Blatt spielen, was schön ist für den Privatbedarf. Es ist aber auch ein Handikap, denn wenn du gut vom Blatt spielst, dann hast du keinen Grund zu üben, denn das klingt ja erstmal ganz okay so. Es wird aber auch nie wirklich gut.
Rechtverblüffend: Um sich unserer Themenreihe anzunähern – was kann Musik in Krisenzeiten bewirken?
Schmidt-Garre: Man hat ja nach diesem letzten Jahr beispielsweise mitgekriegt, dass so viele Klaviere verkauft wurden wie noch nie. Also die Leute haben sich anscheinend wirklich mit Musik und auch mit Musik machen beschäftigt, hatten plötzlich mehr Zeit. Es wurden aber auch mehr Hunde gekauft (lacht). Aber das ist ja alles nicht schlecht.
Rechtverblüffend: Es wurden wohl auch mehr Kinder gezeugt.
Schmidt-Garre: Das angeblich nicht, nach allem was ich gehört habe. Das haben alle prophezeit. Im Gegenteil war man überrascht, dass eben genau das nicht passiert ist, weil die Leute dann wahrscheinlich doch so ein bisschen depressiv waren und eben nicht miteinander geschlafen haben. Musik wurde aber wohl sehr viel gemacht. Ich habe, was ich früher nie gemacht habe, Konzerte veranstaltet. Es gab ja dann diesen riesigen Streaming-Boom, der sich dann irgendwann erschöpft hat und das wurde wahnsinnig aufgenommen.
Rechtverblüffend: Vielleicht auch deshalb, weil eine Lücke entstanden ist und man gemerkt hat, dass da wieder Raum ist, den man füllen kann?
Schmidt-Garre: Ja. Also ich meine in so depressiven Zeiten geht es ja in beide Richtungen. Das haben wir ja gerade gemerkt bei dem Thema mit den Kindern. Also das kann einen lähmen oder inspirieren. Vielleicht haben manche Leute auch ganz abgeschaltet und gar nichts mehr angehört. Aber ich glaube, die Mehrheit hat sich schon auch mit Musik ein bisschen gerettet.
Rechtverblüffend: Das ist ein sehr spannendes Thema. Viele Musiker*innen sagen, es war ein Jahr der Befreiung. Weil sie endlich die Möglichkeit hatten, selbst zu entscheiden, was sie wollen.
Schmidt-Garre: Ja, das habe ich auch von ganz vielen gehört. Dass sie plötzlich neues Repertoire gelernt haben, das keiner von ihnen forderte, und dass es so herrlich war, endlich mal nicht zu wissen, dass man in sieben Monaten dieses und jenes spielen muss.
„Krise ist die Verengung vor der Verwandlung. (...) Nach der Corona-Krise müsste also etwas Neues entstehen – was ich allerdings nicht erwarte. Also ist entweder meine Definition falsch, oder es war gar keine Krise.“
Rechtverblüffend: Lass uns ganz grundsätzlich über das Phänomen der Krise und ihre Auswirkungen auf Kunst sprechen. Krisen begegnen uns ja in allen möglichen Disziplinen. Ich würde dir gerne eine mögliche Definition von Krise vorschlagen: Im Allgemeinen kann man Krise wohl als einen Höhepunkt inmitten eines gefährlichen Konglomerats von Konflikten betrachten, angesiedelt in einem bestimmten System. Was bedeutet „Krise“ unabhängig von Kunst für dich – ganz assoziativ?
Schmidt-Garre: (nach langem Überlegen) Eine Art Sackgasse...
Du stellst aber schwere Fragen.
Rechtverblüffend: Es ist doch spannend, dass Krise sowohl Höhe- als auch Wendepunkt sein kann. Und was danach kommt. Auch nach diesem Jahr. Was passiert denn jetzt in der Kunst? Oder auch in jedem anderen Bereich. Wie werden jetzt Programme gestaltet? Wird jetzt wieder Wagner rausgeholt? Oder werden wir jetzt total abgefahrene Sachen machen und auch Künstler*innen beispielsweise im Münchener Herkulessaal auftreten lassen, die dort normalerweise nicht auftreten?
Schmidt-Garre: Das ist wirklich schwer zu prognostizieren. Aber ich habe neulich etwas sehr Interessantes erlebt: Ich stelle hier in München gerade einen Film fertig, da geht es um drei Opernsängerinnen, die sind besser als andere und überschreiten Grenzen, vor denen andere Halt machen. Ich versuche rauszukriegen, wie die das machen, und das ist natürlich schwierig herauszufinden. Man kann sie fragen, aber da bekommt man nicht unbedingt eine befriedigende Antwort und deswegen habe ich sie vor allem beobachtet und geschaut – so wie Stanislawski das damals mit Schauspielerkollegen gemacht hat – was die denn so vor der Aufführung machen. Wie die sich vorbereiten, in welcher Stimmung sie sind, wie versuchen die in die Rolle zu finden und so. Das ist sehr interessant, denn man kommt da ziemlich tief rein und teilt dann deren Weg – jetzt konkret bei Ermonela Jaho, die ich extrem verehre - in die ganz tiefen Emotionen und Abgründe, die die uns dann auf der Bühne zeigen.
Ich habe den Film jetzt ein paar Leuten in halbfertiger Form gezeigt, und alle haben sehr stark reagiert. Und vielleicht ist der Film ja auch toll und alle würden so reagieren, aber ich hab das Gefühl, das ist so ein Film, der im Moment gerade sehr gut funktioniert. Diese menschlichen und künstlerischen Abgründe, die ich da vorstelle, in die ich die Leute da reinkommen lasse, die bewegen die Leute gerade wahnsinnig. Und die fangen alle an zu weinen und so. Und das ist vielleicht jetzt gerade der Typ von Film, den man jetzt sehen will. Und irgendeine sehr trockene analytische Auseinandersetzung ist vielleicht jetzt gerade nicht das, was funktioniert.
Die Frage nach dem Wesen der Krise beschäftigt Schmidt-Garre auch noch nach unserem Gespräch. So meldet er sich nach einigen Stunden der Reflexion bei mir und schreibt: „Krise ist die Verengung vor der Verwandlung. Ein Heuschnupfenanfall, wenn das Klima drückend wird vor dem Gewitter. Die Raupe kurz vor der Verwandlung in den Schmetterling. Die Platzangst des Kükens vor dem Pochen ans Ei. Die Krise mündet in die Explosion, in die Katastrophe, und danach entsteht etwas Neues. Peripetie im klassischen Drama. Im zweiten Akt ist der Held Spielball fremder Mächte, dann kommt die Krise, und im dritten Akt nimmt er die Sache selber in die Hand und führt sie zur Lösung. Nach der Corona-Krise müsste also etwas Neues entstehen – was ich allerdings nicht erwarte. Also ist entweder meine Definition falsch, oder es war gar keine Krise.“.
Rechtverblüffend: Du hast nach deinem Abschluss an der HFF 1988 die Produktionsfirma Pars Media gegründet, mit dem Ziel, Künstlerporträts sowie Dokumentar- und Spielfilme zu Themen der Musik und Kunst zu realisieren. Ich denke beispielsweise an die Dokumentation „Stage Light – Stage Fright“, in welchem mit Interviewpartnern wie Hélène Grimaud oder Lars Vogt über die Abgründe und die Schattenseiten von Kunst gesprochen wird. Kannst du uns etwas über diese Abgründe erzählen?
Schmidt-Garre: Also ich war in diesem Projekt ja nur Produzent, aber es geht in diesem Projekt eher darum, wie man diesen Druck und die Ängste aushält.
In meinem jetzigen Film „Fuoco sacro – Suche nach dem heiligen Feuer des Gesangs“ geht es mehr darum, wie man sich in die Stimmung bringt, überhaupt Kunst herstellen zu können. Also zum Beispiel die Szene, die wir jetzt in diesem Moment, als du geklingelt hast, bearbeitet haben, ist eine, da geht Ermonela Jaho vor der Vorstellung im Bademantel, aber schon mit Perücke, also halbfertig, über die Bühne und fasst so ein bisschen die Dekoration an, setzt sich kurz hin, schaut in den Saal. Man hat das Gefühl, sie nimmt Kontakt auf mit der künstlichen Welt, in die sie dann später eintauchen wird. Sie sagt sie braucht das. Sie sagt, sie kennt natürlich die Bühne, sie hat es schon x-mal gemacht, sie hat dort geprobt und so, aber jeden Abend fühlt es sich anders an und sie muss diese Vibration des Tages spüren. Am Ende sagt sie dann: „It has a good energy today.“ Und sie sagt, wir sind wie Hunde, wir brauchen unser Territory, unser Gebiet.
Und so was machen andere halt nicht. Sie aber braucht das, und was dann hinterher rauskommt ist auch viel stärker. Andere plappern bis kurz vor Konzertbeginn mit den Kollegen und können das dann vielleicht auch in Nullkommanichts einschalten. Aber diese Frau nicht. Die muss da wirklich langsam reinwachsen in die Stimmung des Abends. Und das ist genau das, was Stanislawski auch erzählt hat, von den großen Schauspielern vor hundert Jahren.
Es gibt aber eben auch andere. Der extremste Fall, den ich kenne, ist der Pianist Boris Beresowski. Das ist so ein totaler Hasardeur, der immer volles Risiko eingeht. Von dem habe ich mal ein Konzert aufgezeichnet, auch einen Film gemacht, da spielte er Stücke von Medtner, die man nicht so kennt. Er hat glaube ich sechs Stücke aus dem Zyklus „Vergessene Weisen“ ausgewählt. Er war schon am Bühneneingang, da stand meine Assistentin und da sagte er: „Sag noch mal ganz schnell, Barbara, in welcher Reihenfolge spiele ich die Stücke?“ Es war wirklich zwei Minuten vor Konzertbeginn. Und da hat sie es ihm gesagt und da sagte er: „Ah ja okay alles klar“. Er ging raus auf die Bühne und hat sie dann tatsächlich in einer anderen Reihenfolge gespielt, als es im Programmheft stand. Hat natürlich keiner gemerkt, weil keiner diese Stücke kannte. Aber solche Typen gibt es eben auch. Und er ist trotzdem ein ganz großer Pianist.
Rechtverblüffend: Lass uns über Oper reden. Eine Krise, die man der Oper immer wieder vorwirft, ist, dass sich zunehmend nur noch älteres Publikum für sie interessiert und es den Jüngeren an der Bereitschaft fehlt, sich auf oftmals mehrstündige Produktionen einzulassen. Ich denke nur an "Der Ring des Nibelungen", der als Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend konzipiert wurde und ohne Pause auf eine ungefähre Länge von fast sechzehn Stunden kommt. Du hast 2018 die erste 360-Grad-Oper verfilmt, indem du eine Sequenz aus Mozarts „Hochzeit des Figaro“ inszeniert hast. Kannst du uns etwas über dieses Projekt erzählen?
Schmidt-Garre: Ich glaube, es ist gar nicht so falsch, die Leute mit dem Ring des Nibelungen zu konfrontieren, weil es ja interessant ist sich mit dicken Brocken zu beschäftigen. Also wenn man versucht alles niederschwellig zu machen, dann verfehlt man die Leute vielleicht auch, dann verkauft man ihnen was unter Niveau. Und wenn man sie richtig überfordert mit einem monumentalen Werk, dann halten sie das vielleicht nicht aus und schlafen ein, aber die Erfahrung könnte auch bereichernd sein. Ich will das gar nicht ausschließen.
Aber was ich da gemacht habe, war etwas ganz anderes. Ich war sehr fasziniert von diesen 360-Grad-Kameras, wo man in die Welt eintreten kann. Also wenn ich jetzt eine Oper aufzeichne oder verfilme, dann guck ich ja von außen drauf und bei den 360-Grad-Kameras ist man selber mittendrin. Man setzt die Brille auf und das Bild hat keine Grenze. Überall ist Szene. Das fand ich total faszinierend. Dass man, anstatt wie in einem Guckkastentheater nur drauf schaut, stattdessen drin ist und die Dinge passieren um einen herum. Ich dachte, das könnte man doch mal mit Oper versuchen. Ich hatte eigentlich ein Konzept für die ganze Zauberflöte, aber das wäre gar nicht zu finanzieren und wäre vielleicht auch falsch gewesen, weil diese 360-Grad-Erfahrung ganz schön anstrengend ist. Also wenn du zwanzig Minuten diese Brille aufhast und das aktiv miterlebst – und man ist viel aktiver! – dann ist man fix und fertig.
Rechtverblüffend: Wird der/die Zuschauer*in dann also selbst zum Darsteller, weil man alles um sich herum wahrnehmen kann?
Schmidt-Garre: Nicht unbedingt wie ein Darsteller, sondern eher wie ein blinder Passagier, oder ein unsichtbarer Zeuge. Man ist zwar in der Mitte, die Darsteller sehen dich nicht, aber du siehst alles. Das Faszinierende ist, dass man den Bildausschnitt immer selbst setzt, und dass man entscheidet, was man sieht. Du siehst also prinzipiell jedes Mal einen neuen Film. Du sagst zum Beispiel: Jetzt konzentriere ich mich hier mal auf den Cherubino, beim nächsten Mal schaue ich mal nur auf den Grafen.
Natürlich hat ein Regisseur immer das Verlangen, den Blick des Zuschauers zu lenken – er will ja auf eine bestimmte Art erzählen – und deshalb suggeriert man durch bestimmte Blicke und Gesten, dass der Zuschauer dann von rechts nach links schwenkt mit seiner Brille. Aber wenn der Zuschauer dies nicht will, macht er es eben genau anders. Sieht dann also immer genau die Reaktion und nicht die Aktion. Da ergeben sich tausend interessante Möglichkeiten.
Ich habe mir als zusätzliche Herausforderung vorgenommen, den Raum sich auch verwandeln zu lassen. Meistens wird bei den Produktionen mit einer 360-Grad-Kamera die Kamera in einem runden Raum in die Mitte gestellt. Das führt aber oft dazu, dass man in allen Richtungen aber auch mehr oder weniger dasselbe sieht. Der Reiz ist also gar nicht so groß. Ich dachte, es könnte interessant sein, wenn der Raum, in dem alles spielt, gemäß der Geschichte, der Aktion, sich selber verändert. Deshalb habe ich mir einen Raum mit beweglichen Wänden ausgedacht, die teilweise auf die Kamera zufahren, teilweise drehen sie sich und der Zuschauer steht da und es entstehen in diesem Kontinuum, das er da erlebt, immer neue Perspektiven und neue Räume.
Allerdings braucht man eben diese spezielle Brille. Auf diese Weise kompensiere ich die Beschränkungen dieses Mediums, in dem man ja nicht wirklich schneiden und den Bildausschnitt nicht verändern kann.
Rechtverblüffend: Was sagt das nun über Kunst aus? Ist manche Kunst nur bestimmten Menschen vorbehalten?
Schmidt-Garre: Naja, es besteht die Hoffnung, dass sich dieses Medium durchsetzt, die Brillen werden immer billiger, an sich ist das keine aufwendige Geschichte. Aber klar...
Rechtverblüffend: Müssen also nicht nur wir, sondern muss sich also die Kunst an sich immer neu reformieren, um mit der Zeit zu gehen? Beispielsweise in Form von Techniken, die man zuvor noch nicht hatte?
Schmidt-Garre: Ach Gott, das muss überhaupt nicht sein. Ich hänge auch sehr an den ganz traditionellen Formen mit Guckkastenformat und rotem Vorhang. Finde ich super. Aber wenn so ein neues Medium dann auftaucht, dann macht es eben auch Spaß, darüber nachzudenken. Und ich interessiere mich nun mal sehr für Oper und die Frage, was passiert, wenn ich Oper mit einem bestimmten Medium konfrontiere. Eigentlich würde ich sogar sagen, da ist mehr bei rausgekommen als bei konventionellen Opernfilm-Experimenten, die mich ja auch sehr interessieren. Eigentlich ist diese 360-Grad-Geschichte vielleicht näher an das Herz der Oper gekommen als die normaleren Filme.
„Mich interessiert der Prozess, wie Sachen entstehen, wie Sachen sich verändern.“
Rechtverblüffend: Du bist als Regisseur gerade auch für Künstlerportraits bekannt. Was genau begeistert dich eigentlich daran, andere Künstler*innen auf ihren Wegen zu begleiten?
Schmidt-Garre: Mich interessiert der Prozess, wie Sachen entstehen, wie Sachen sich verändern. Zum Beispiel waren Proben – auch unabhängig von den damit verbundenen Filmen – immer das Spannendste. Und zu sehen, wie etwas langsam entsteht, und wie in der Interaktion von Reden und Deuten und Gesten und Körpersprache die Sache sich so allmählich entwickelt und verwandelt. Das kann Film natürlich sehr gut, er kann Prozesse abbilden. Deshalb finde ich es viel interessanter, einen Probenfilm zu sehen, als ein abgefilmtes Konzert. Das sagt mir wenig. Das möchte ich lieber live oder im Radio erleben.
Rechtverblüffend: Ich würde gerne abschließend mit dir über persönliche Krisenbewältigung sprechen. Wie gehst du mit Krisen um?
Schmidt-Garre: Was mich betrifft - auch im Hinblick auf persönliche Krisen – bin ich so froh und dankbar, dass ich diese Möglichkeit habe, diese sagen wir zweite Ebene in meinem Bewusstsein und in meinem Erleben, dass ich dahin gehen kann – das klingt jetzt so nach Flucht, das ist es ja gar nicht – es ist ja ganz konkret und real. Aber wenn ich mir den Anfang der siebten Bruckner-Sinfonie vorstellen kann – und das kann ich ja immer – dann habe ich eine tolle Möglichkeit, nicht vor der Krise zu fliehen, aber ihr etwas entgegenzusetzen. Ich bin dankbar, dass ich das kann und bedaure alle, die das nicht haben. Die wissen es ja nicht, deswegen wissen sie nicht, wie schlecht es ihnen geht und das ist auch gut so. Aber wenn die wüssten, was das für eine Chance ist! Und das begleitet mich ja ununterbrochen. Ich habe das ja immer bei mir, dieses Paket. Und das ist natürlich fantastisch. Und dann kommt man glaube ich schon besser mit Krisen klar.
Rechtverblüffend: Ich habe eine ähnliche Erfahrung gemacht. Eine Bekannte gab mir den Tipp, in besonders stressigen Momenten Videos von Skispringern anzusehen. Der Moment des „Abhebens“ sei beflügelnd und bringe hervor, welche Kraft im menschlichen Sein stecke. Es geht eben immer weiter. Nun habe ich überhaupt keine Berührungspunkte mit Skispringen. Aber es hat mich inspiriert und mich an ein Stück erinnert, dass ebenfalls – zumindest bei mir – unmenschliche Kräfte geweckt hat: “La Campanella“ von Liszt. Das „Glockenmotiv“ in der rechten Hand, ist für mich ebenfalls Sinnbild dafür, dass es immer weitergeht. Und manchmal höre ich es mir an und es ist ein Trost aus der Krise.
„Eine Opernproduktion von mir ist den üblichen Weg gegangen. Sie sollte eigentlich im Juni 2020 Premiere haben, dann wurde die Produktion verschoben, dann hat der Intendant gesagt, wir ziehen die Beleuchtungsproben vor – wir haben also eine nichtexistierende Inszenierung eine Woche lang beleuchtet, was so ein bisschen sinnlos ist. Aber nicht völlig sinnlos.“
Rechtverblüffend: Rückblickend auf das vergangene Jahr, das man sicherlich aus Sicht der Kunstbranche als ein Krisenjahr bezeichnen kann – wie hat dieses Jahr deine Arbeit beeinflusst? Im Gegensatz zu Musiker*innen oder Tänzer*innen warst du nicht auf Auftritte angewiesen, oder?
Schmidt-Garre: Doch, ich schon auch. Weil ich ja auch Opern inszeniere. Und eine Opernproduktion von mir in Leipzig ist den üblichen Weg gegangen. Sie sollte eigentlich im Juni 2020 Premiere haben, dann wurde die Produktion verschoben, dann hat der Intendant gesagt, wir nutzen die Zeit und ziehen die Beleuchtungsproben vor – wir haben also eine nichtexistierende Inszenierung eine Woche lang beleuchtet (lacht), was so ein bisschen sinnlos ist. Aber nicht völlig sinnlos. Das Bühnenbild war ja fertig, also gewisse Grundeinstellungen kann man machen. Da sind dann auch schöne Sachen entstanden, eben durch die Auseinandersetzung mit dem Licht, das ich dann später in die Inszenierung einbauen wollte.
Dann wurde die Inszenierung verschoben und der Intendant teilte mir mit, ich müsse mir eine alternative Variante überlegen, in der das Orchester auf der Bühne sitzt. Ich bekam also einen Streifen von 30 Meter Breite und 4 Meter Tiefe und da soll jetzt alles stattfinden. Das hieß Bühnenbild und Licht, wie es bisher geplant war, konnte alles weggeschmissen werden und alles musste neukonzipiert werden. Ich bin dann auch auf eine Lösung gekommen, die mich interessiert hätte, dann konnten aber auch diese Proben nicht stattfinden. Also das ist natürlich schon doof.
Rechtverblüffend: Das sind Ideen, die da neu entstehen MUSSTEN, weil die Inszenierung durch äußere Umstände bedingt nicht mehr so realisiert werden konnte, wie geplant. Waren diese Ideen manchmal sogar besser, als dein ursprüngliches Vorhaben?
Schmidt-Garre: In diesem Fall tatsächlich. Es ging um “Capriccio“ von Richard Strauss. Ehrlich gesagt ein ziemlich blödes Stück. Es ist so eine Elfenbeinturmgeschichte und es ist eigentlich prekär, dass Strauß das mitten im Zweiten Weltkrieg komponiert hat, ein Stück, in dem es nur um irgendwelche L´art pour l´art-Fragen geht – bisschen peinlich. Es geht um Nichts und deswegen ist das Stück dramatisch eigentlich auch nicht so interessant. Aber ich dachte das passt ganz gut in unsere Zeit, weil ja die Hochkultur eben im Schwinden ist und alles immer niederschwellig sein soll, nicht elitär und zugänglich für jeden.
Die Leute, die so richtig in der Hochkultur groß geworden sind, tun sich damit natürlich schwer und versuchen irgendwie diese Welt, mit der sie groß geworden sind, am Leben zu erhalten. Um sie herum ist aber eigentlich schon alles abgetaut. Da dachte ich, das könnte man eigentlich ganz gut inszenieren mit alten Leuten, die in einer alten Mietwohnung in Berlin Charlottenburg wohnen und nur 670 Euro Miete zahlen, weil sie einen uralten Mietvertrag haben – die Heizung geht aber schon lange nicht mehr und sie können sie nicht reparieren. Die zelebrieren dort ihr Kulturleben. Als es dann hieß, ich muss mich räumlich beschränken auf diesen schmalen Streifen, da dachte ich, gut dann drehen wir die Sache jetzt noch eine Windung weiter, dann sind die aus der Wohnung rausgeflogen und sind jetzt auf der Straße. Der schmale Streifen ist also die Straße. Wäre die Inszenierung dann zustande gekommen, hätte ich dann noch recherchiert in der Bahnhofsmission oder so, denn es gibt ja sicherlich Obdachlose mit intellektuellem Background. Und die werden ja auch diese siebte Bruckner-Sinfonie, die ich vorhin ansprach, mit sich herumtragen, wenn sie auf der Straße sind und die leeren Flaschen aus dem Müll ziehen.
Das wäre sehr spannend gewesen.
„Der Anfang hatte ja auch etwas sehr Inspirierendes, da haben alle ihre Lebensmodelle in Frage gestellt, da wurden lauter Utopien entwickelt, das war ja so ganz funkelnd auch irgendwie.“
Rechtverblüffend: Im Hinblick auf dieses Jahr, welche Zeitspanne hast du am bedrückendsten empfunden?
Schmidt-Garre: Da ging es mir sicher wie den meisten, dass ich den Anfang ganz gut durchgestanden habe, und das dann so ab Februar 2021, als die Enttäuschung kam, dass es mit der Impfung nicht so richtig vorangeht, und dass ohne Aussicht immer weiter Lockdown verhängt wird, das war am Deprimierendsten für alle. Und dann noch der Winter – ich lebe ja in Berlin, wo der Winter grauenhaft ist (lacht), also das war natürlich schrecklich.
Der Anfang hatte ja auch etwas sehr Inspirierendes, da haben alle ihre Lebensmodelle in Frage gestellt, da wurden lauter Utopien entwickelt, das war ja so ganz funkelnd auch irgendwie. Ich habe damals ab März Konzerte veranstaltet, die gestreamt wurden. Ich habe 14 Konzerte in einem sehr schönen Raum, mit einem tollen Flügel, guter Akustik und guter Video- und Tontechnik – denn es wurde ja auch viel in lausiger Qualität gestreamt – veranstaltet und da sind dann sehr gute Leute aufgetreten. Ich habe dann zwei Konzerte pro Woche bis Anfang Mai gemacht und bin immer durch die völlig ausgestorbene Stadt in diesen Saal gefahren – das war für mich eine sehr schöne Zeit.
Jan Schmidt-Garres Film „Fuoco sacro – Suche nach dem heiligen Feuer des Gesangs“ kommt im Herbst in die Kinos.