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Ein Gespräch mit Igor Levit über Kunst und Krisen: "So haltgebend habe ich Musik noch nie erlebt"

„Wenn Schönheit stirbt, kehrt schwarz das Chaos wieder“ schrieb William Shakespeare in “Venus und Adonis“ einst. Kunst und Krisen haben sich jeher gegenseitig beeinflusst, so kann Krisenbewältigung durch die verschiedenen Kunstformen vorangetrieben werden. Aber es sind auch die großen Schöpfungen von Künstlerinnen und Künstlern unserer Zeit, die uns immer wieder zwingen, die Vergangenheit nie zu vergessen. Kann also Kunst und mit ihr die in ihr ruhende Schönheit überhaupt sterben?


Antworten auf diese Frage können uns nur die unermüdlich Schaffenden geben. Zu ihnen gehört einer der bedeutendsten Pianisten der Gegenwart: Igor Levit, geboren 1987 im russischen Gorki (heute Nischni Nowgorod), studierte an der Musikhochschule Hannover und gewann 2005 beim Arthur-Rubinstein-Wettbewerb als jüngster Teilnehmer die Silbermedaille. Heute konzertiert er in den größten Sälen dieser Welt, so beispielsweise in der Londoner Wigmore Hall, im Concertgebouw Amsterdam und in der Elbphilharmonie Hamburg. Er ist vielfach ausgezeichneter Preisträger, insbesondere die Einspielung von Bachs “Goldberg-Variationen“, Beethovens “Diabelli-Variationen“ und Rzewskis “The People United Will Never Be Defeated“ wurden gewürdigt. Zuletzt veröffentlichte er alle 32 Klaviersonaten Beethovens. Am 10. September 2021 wird sein neues Album „On DSCH“ erscheinen, in dem Levit Schostakowitschs 24 Präludien und Fugen op. 87 und Stevensons “Passacaglia on DSCH“ präsentiert.

Aber auch Levits gesellschafts-politisches Engagement ist hervorzuheben, so wurde er vergangenes Jahr u. a. mit der “Gabe der Erinnerung“ des Internationalen Auschwitz Komitees, dem Bundesverdienstkreuz und dem Preis für Verständigung und Toleranz des Jüdischen Museums Berlin ausgezeichnet. Levit hat zudem seit 2019 eine Professur für Klavier an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover inne.


Mit Levit spreche ich über die Zusammenhänge von Politik, Recht und Musik, Krisen und die Heilkraft von Tönen. Und so erklingt an einem zugegebenermaßen recht frühen Samstagmorgen das bekannte „Zoom“-Beitrittsbimmeln und Levit begrüßt mich mit den Worten „Wow. Super. Kunst und Krise. Genau die richtige Uhrzeit.“. Zur Besänftigung locke ich ihn mit einer von Levits bekannten Passionen: Dem Jazz.


Der Pianist Igor Levit. © Robbie Lawrence.

Rechtverblüffend: An artist's duty is to reflect the times”. Das sagte die von dir sehr geschätzte US-amerikanische Jazz- und Bluessängerin und auch Bürgerrechtsaktivistin Nina Simone einmal in einem Interview. Du hast diesen Satz aufgegriffen und zitierst ihn seither. Was spiegelst du, vor allem nach diesem ganz außerordentlichen Jahr, wider?


Levit: Erstens bin ich nicht halb so klug wie Nina Simone und zweitens würde ich das auf eine ganz grundsätzliche Ebene bringen wollen. Der Kontext für diese Antwort von mir war, dass ich ständig die Frage gestellt bekommen habe: „Gibt es unpolitische Kunst“? Und meine Antwort darauf ist immer: Ich weiß subjektiv einfach überhaupt nicht was unpolitische Kunst sein soll. Erstens gibt es überhaupt keine Kunst ohne Menschen. Zumindest in unserem Kunstverständnis. Kunst ist immer menschengemacht. Die Frage, ob es auch unpolitische Kunst gibt, ist für mich erstmal irrelevant. Kunst kann erstmal alles, sie muss gar nichts.

Die viel interessantere Frage: Gibt es unpolitische Künstler? Da frage ich mich nun, was das sein soll. Was denn sonst soll ich reflektieren, wenn nicht die Zeit? Ich sehe doch, wo ich lebe, ich kann doch niemandem erzählen, dass ich nicht beeinflusst bin von dem was ich sehe, wo ich lebe, mit wem ich spreche, was ich erlebe etc. In diesen Momenten reflektiere ich. Das letzte Jahr, wie das vorletzte Jahr, wie das nächste Jahr. Daran ist auch überhaupt nichts Besonderes, sondern besonders wäre, wenn mir jemand sagen würde: „Es ist mir alles egal, ich reflektiere gar nichts.“ Aber ich weiß überhaupt nicht, was das sein soll. Deshalb ja: Ich reflektiere. Ich weiß nicht, ob ich es euch reflektiere, aber mir reflektiere ich es, beziehungsweise für mich reflektiere ich all das, was ich erlebe.

„Wir haben politisches und gesellschaftliches mediales Großversagen gegenüber der Kulturwelt erlebt.“

Rechtverblüffend: Lass uns ganz grundsätzlich über das Phänomen der Krise und ihre Auswirkungen auf Kunst sprechen. Krisen begegnen uns ja in allen möglichen Disziplinen, im Allgemeinen kann man Krise wohl aber als einen Höhepunkt inmitten eines gefährlichen Konglomerats von Konflikten betrachten, angesiedelt in einem bestimmten System. Von diesem Verständnis ausgehend würde ich gerne zunächst über staatliches Handeln in Krisensituationen sprechen. Die Geigerin Anne-Sophie Mutter spricht beispielsweise im Zuge der staatlichen Beschränkungen von Kulturbetrieben anlässlich der Corona-Pandemie von einem „Sterben in der Musikbranche“. Du hast zu Beginn der Pandemie entschieden, eine Zeitlang Hauskonzerte über Twitter zu streamen, um den emotionalen, für dich existenziellen Kontakt zu den Zuhörer*innen aufrecht zu erhalten. In diesem Sinne bist du ein Vorbild für die Wehrhaftigkeit der Musik. Ist Musik durch staatliche Erlasse denn überhaupt einschränkbar?


Levit: Nein. Du kannst Musik stoppen, indem du aufhörst sie zu machen.

Zuallererst: Ich finde – bei allem Respekt – den Satz „die Branche stirbt“ schwierig. Denn nichts stirbt doch, solange es nicht tot ist. Ich bin kein Zitatejäger, aber es gibt ein Zitat, dass ich dann doch mag: “I can't be a pessimist because I am alive“. In meiner ganz einfachen Sprache würde ich sagen, es geht so lange weiter wie es eben weiter geht, und wenn es nicht weiter geht, dann nicht. Selbstverständlich wird die Branche nicht sterben. Was ist überhaupt „die Branche“? Das ist mir alles zu eng und daran will ich mich überhaupt nicht beteiligen. Du kannst Menschen verbieten, Musik zu machen. Dann verschwindet Musik. Aber – und da kommen wir zu meinem Lieblingsthema – was ist überhaupt Musik? Reden wir über das, was wir darunter verstehen, irgendein Brahms-Intermezzo? Oder können wir auch definieren und sagen - (klatscht in die Hände)


Rechtverblüffend: Geräusch und Rhythmus sagst du, nicht wahr?


Levit: Genau. Am Ende ist es ein bisschen wie mit dem Humor. Du kannst Menschen ins Gefängnis stecken, aber nicht Humor. Ebenso nicht die Gedanken und nicht die Musik. Musik lässt sich also natürlich überhaupt nicht einschränken. Klar ist: In diesen etwas über 15 Monaten befinden wir uns in einer existenziellen Krise. Auf sehr vielen Ebenen wurde die Kulturwelt im Stich gelassen, wenn nicht gar verraten. Aber „die Branche stirbt“? So ein Quatsch. Sie ist ja auch nicht gestorben. Sehr viele Künstlerinnen und Künstler sind aus dem Beruf gegangen. Und für sehr viele wird es sehr schwer sein, wieder einen Einstieg zu finden. Aber es ist ein Unterschied, ob ein Restaurant pleite geht oder ob die Gastronomie stirbt. Aber wir haben politisches und gesellschaftliches mediales Großversagen gegenüber der Kulturwelt erlebt.


(Überlegt)


Und ja – Musik kann wehrhaft sein. Absolut.


Rechtverblüffend: War es dein Plan, mit den Streaming-Konzerten dies auszudrücken? Oder hatte dies erstmal nur persönliche Gründe?


Levit: Nein. Das Projekt war erstmal persönlich. Ich kann einfach nicht ohne Menschen spielen. Und so hatte ich die Idee, eines der ältesten Formate, nämlich die des Hauskonzerts, in dieses 21. Jahrhundert zu bringen. Ich habe also einfach Menschen zu mir ins Wohnzimmer eingeladen. Das war es erstmal - nicht mehr und nicht weniger. Welche Wucht das dann hatte, wurde erst später klar. Es war ja auch für mich eine verwirrende Zeit. Niemand wusste, was das für ein Virus ist, wie lange das alles dauern soll. Ich wollte einfach sowohl für die Menschen da draußen als auch für mich selbst so eine Art Anker schaffen. Das war der Gedanke dahinter.


„Es geht hier doch vielmehr darum, dass die Leute vom Musizieren leben können. Das ist eine wirtschaftliche Frage, aber nicht eine Frage der Kunstfreiheit.“

Rechtverblüffend: Lass uns diese Pandemie einmal rechtlich betrachten. Musiker*innen der Initiative "Aufstehen für die Kunst" sind zuletzt mit einem Eilantrag, der die Öffnung einiger Bayerischer Kulturstätten beinhaltete, vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof gescheitert. Die Kläger*innen begründeten ihre Klage unter anderem damit, die aktuelle Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung verletzte sie in ihrem Recht auf Kunstfreiheit. Bist du irgendwann im letzten Jahr ebenfalls zu dem Entschluss gelangt, dass es Zeit ist rechtliche Schritte zu ergreifen?


Levit: Nein. Erstens kenne ich mich da nicht aus, und zweitens - (denkt nach)

Ich finde es durchaus nachvollziehbar, dass geklagt wurde, um wieder Musik machen zu dürfen. Ich halte es für eine falsche Prämisse, kulturelle Einrichtungen UM JEDEN PREIS wieder bei Vollauslastung zu öffnen. Aber darum ging es auch nicht. Worum es für mich geht: Ich fände es viel besser und klüger, dass - wenn überhaupt geklagt wird - auf Verhältnismäßigkeit geklagt wird. Es muss geklärt werden, wieso - im Verhältnis zu anderen staatlichen Entscheidungen – diese Entscheidung gerechtfertigt ist. Das ist für mich eine viel entscheidendere Frage als „mach alles auf, denn ich bin in meiner Kunstfreiheit beschränkt“. Denn das bin ich nicht, ich kann ja Klavier spielen. Es geht hier doch vielmehr darum, dass die Leute vom Musizieren leben können. Das ist eine wirtschaftliche Frage, aber nicht eine Frage der Kunstfreiheit. Ich bin kein Jurist, ich bin Laie, aber ich halte das für problematisch. Die Frage der Verhältnismäßigkeit hingegen zu stellen, das fände ich mal einen coolen Weg.


Rechtverblüffend: Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hatte den Antrag mit der Begründung abgelehnt, dass der Eingriff in die Kunstfreiheit sich im Hinblick auf den Schutz der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit einer Vielzahl von Menschen als erforderlich und angemessen erweise. Das Gericht sah auch keine Ungleichbehandlung der Kulturszene, denn Teilnehmer*innen bei Versammlungen und Besucher*innen von Gottesdiensten üben aktiv ihre Versammlungs- beziehungsweise Religionsfreiheit aus, während Besucher*innen von Kulturveranstaltungen nicht selbst Träger*innen des Grundrechts der Kunstfreiheit sind.


Levit: Mein Freund Frederic Rzewski würde sagen: Du wirst immer für ein Butterbrot spielen dürfen und können. Das ist Punkt 1. Die Verhältnismäßigkeit, in einem säkularisierten Staat einen Gottesdienst zuzulassen, aber Kulturveranstaltungen bei gleicher Personenanzahl zu verbieten, ist meines Erachtens nicht mehr gegeben. Selbstverständlich muss aber innerhalb der Verhältnismäßigkeit auch geprüft werden, ob es verantwortet werden kann, zu spielen, oder nicht.

Was ich jetzt aber noch viel spannender finde: Was passiert denn, wenn jetzt wieder alle Kulturstätten aufmachen? Lassen die dann alles fallen und es war dann egal?


Rechtverblüffend: In dieser Entscheidung wurde der Eilantrag jetzt jedenfalls erstmal abgelehnt, bis die Hauptsache entschieden wird, kann es lange dauern. Also ja - kann sein.


Levit: So. Und was war das dann anderes als ein performativer Akt?


Rechtverblüffend: Es wurden im vergangenen Jahr sehr häufig Gerichte bemüht, weil Bürger*innen dachten, dass bestimmte, mit der Pandemie im Zusammenhang stehende Sachverhalte nur noch von Gerichten geklärt werden können.


Levit: Es war in diesem Jahr sehr problematisch, dass viele Fragen rein und ausschließlich in Bezug auf diese temporäre Corona-Zeit aufgeworfen wurden. Aber nicht darüber hinaus.


Nachdem der Bayerische Verwaltungsgerichtshof den Eilantrag der Initiative "Aufstehen für die Kunst" abgelehnt hat, zog die Gruppe vor das Bundesverfassungsgericht. Am 20. Mai 2021 wurde die Beschwerde abgelehnt (1 BvR 928/21). Begründet wurde dies unter anderem damit, dass die Verfassungsbeschwerde wegen nicht ausreichenden Vortrags unzulässig sei. Insbesondere sei von den Beschwerdestellern nicht dargelegt worden, dass die Beschränkungen künstlerischer Veranstaltungen bei anhaltend hohen Infektionszahlen nicht weiter erforderlich wären.


Rechtverblüffend: In deiner Biografie „Hauskonzert“, äußerst du, es sei selbstverständlich, dass der Staat, wenn Menschenleben bedroht sind, sich entscheidet diese zu schützen und einzuschreiten.


Levit: Ja.


Rechtverblüffend: Du warst also ein Vertreter derjenigen, die die staatlichen Beschränkungen im Kulturbereich als verhältnismäßig erachteten. Wie weit darf denn der Staat einschränken, wann ist es zu viel? Ist jetzt der richtige Zeitpunkt, die kulturellen Einrichtungen wieder zu öffnen?


Levit: Ich finde, wir haben ein unfassbares Glück gehabt, welches es uns überhaupt erlaubt, diese Art von Diskussionen, wie weit der Staat was darf, zu führen. Stellen wir uns vor, es wäre ein Virus ausgebrochen mit einer Sterblichkeitsrate von 60 Prozent. Dann würden wir diese Gespräche hier nicht führen. Dann würde jeder dafür schreien, dass der Staat bitte dafür sorgt, dass – ich will darüber nicht mal nachdenken. Ich finde das gaga und ich finde das grotesk. Ich finde, es ist an Überheblichkeit und an Arroganz nicht zu überbieten, so zu tun – ich spreche es nicht aus. Insofern: Ich stehe dazu: Der Staat hat eine Schutzpflicht und die soll er ausüben. Aber er soll nicht Berufsgruppen und Menschen komplett durch alle Raster fallen lassen. Das ist aber eine andere, eine politische Diskussion, auch das ist ein Vorwurf, den ich über dieses ganze Jahr formulieren muss: Nicht alles, aber vieles, was aus der Kulturwelt kam, war wahnsinnig unpolitisch. „Macht auf“ ist einfach kein Argument. Es kann nur vorgebracht werden, weil nur rund 2 Prozent oder was auch immer die Sterblichkeitsrate des Coronavirus ist, bestehen. Aber die gleichen Musiker und Musikerinnen, die jetzt Klage einreichen, möchte ich hören, wenn es ein viel ansteckenderer Virus gewesen wäre. Insofern stehe ich dazu: Der Staat hat eine Schutzpflicht. Aber dann muss er eben helfen – blöd gesagt: Dann muss er uns durchfüttern. Und das hat er – mit Ausnahmen - nicht gemacht.


Rechtverblüffend: Ich würde gerne noch ein wenig mehr auf die Zusammenhänge zwischen Recht und Musik eingehen. Beide Disziplinen folgen Gesetzen. Sowohl Recht als auch Musik können wir uns wie einen Apothekerschrank mit tausenden kleinen Schubladen vorstellen. Öffnet man die eine Schublade, so tun sich unendlich viele neue Möglichkeiten auf. Der Schaffende kann je nach Zusammensetzung aus ihnen immer wieder neue kreative Dinge entstehen lassen. Überfordert dich diese Fülle an Möglichkeiten zeitweise?


Levit: Nein. Ich finde es erstmal wahnsinnig toll, weil ich ein elender Maximalist bin und irgendwie alles will. Und wenn ich auch noch so eine Palette habe, wo ich im Grunde alles machen darf, finde ich das erstmal befreiend. Wenn du mich jetzt fragen würdest ob mir Konzerte, Restaurants, Reisen fehlen, ist ehrlich gesagt die Antwort nein. Was mir fehlt, ist all das ausüben zu dürfen, wenn ich Lust dazu habe. Das ist der freie Akt, der mir fehlt. Der Apothekerschrank kann also nicht voll genug sein. Und im Falle von Musik ist er buchstäblich unendlich. Und niemand, wirklich niemand kann mir etwas verbieten. Wirklich nicht. Man kann mich kritisieren, aber so schnell kannst du mich gar nicht einholen, wie ich einfach statt laut leise spiele. Also die Möglichkeiten sind unendlich und ich finde es eher befreiend.


„Kunst steht überhaupt in keinem Recht.“

Rechtverblüffend: Du bist – ich hoffe, das darf ich so sagen – ein Verehrer von Busoni...


Levit: Ja – mein Held.


Rechtverblüffend: ...und seinem Werk „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“.


Levit: Meine Bibel.


Rechtverblüffend: Busoni schreibt, der Schaffende sollte kein überliefertes Gesetz auf Treu und Glauben hinnehmen. Seine Aufgabe bestehe vielmehr darin, Gesetze aufzustellen, nicht Gesetzen zu folgen. Dies widerspricht dem Wesen eines Juristen, denn neben der Legislative ist die treue Gesetzesanwendung einer der wesentlichen Pfeiler unseres Rechtsstaats.


Levit (lacht): Welcome to Anarchy.


Rechtverblüffend: In Krisen brauchen Menschen zudem auch feste Zusagen. Sie erwarten Klarheit von der Politik. Inwiefern fühlst du dich in einem Spannungsfeld zwischen Busoni und deiner prinzipiellen Zustimmung zu den vergangenen politisch verbindlichen Entscheidungen?


Levit: Wenn ich diesen Satz von Busoni außerhalb der Musik betrachte, dann kann er sehr schnell gefährlich werden. Ich überspanne den Bogen jetzt mal mit einem Extrembeispiel: Wenn du nur den Gesetzen folgst, die du selbst aufstellst, und nicht denen der anderen, dann haben wir die Situation von „Nine-Eleven“. Ich schaffe eine neue Realität, indem ich einfach mal Flugzeuge in ein Tower fliegen lasse. Ich unterstelle Busoni aber, dass er das nicht so gemeint hat. Diesen Satz aus dem Kontext zu nehmen, halte ich für echt problematisch. In der Musik wiederum liegt er auf der Hand. Natürlich steht in den Noten in Takt X piano. Aber solange du nicht an dein Instrument gehst, klingt da erstmal original gar nichts. Das heißt, es ist mein piano, mein psychologischer Moment. Dann ist es natürlich auch deine Entscheidung, forte zu spielen. Wer soll dir das verbieten? Du musst nur mit den Konsequenzen deiner Entscheidungen leben. Und dieses immer und immer wieder neu zu denken und nicht in status quo zu versinken, das ist, glaube ich, worüber Busoni schreibt. An einer anderen Stelle beschreibt er Notation als Transkription: Er sagt, was im Kopf ist, ist unendlich. Und wenn ich es notiere, dann sperre ich es ein. Und wenn ich das dann dir übergebe, dann ist es deine Aufgabe als Künstler es zu befreien. Irgendwann hinterfragt er dann, wie ein Künstler denken kann, dass das, was er liest, das letzte Wort sein kann.

Rechtverblüffend: Darf Kunst also alles? Steht Kunst außerhalb von Recht?


Levit: Klar. Kunst steht überhaupt in keinem Recht. Zumindest nicht die nonverbale. Verbal – ja gut dann – thanks for setting up some booby traps. Ich bin hier nicht bei Böhmermann.


Levit spielt hier auf seinen gemeinsamen Auftritt mit dem Musiker Danger Dan in der TV-Satireshow “ZDF Magazin Royale“ von Jan Böhmermann vom 9. April 2021 an. Die gesellschaftskritische Single „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ beschäftigt sich mit den Grenzen der Kunstfreiheit, erreichte die deutschen und österreichischen Singlecharts und hatte ein breites Medienecho zur Folge.


Nonverbal ist Kunst nichts unterworfen. Verbal – man kann mit Kunstfreiheit alles Mögliche abdecken. Man kann sogar Antisemitismus mit ihr verharmlosen, indem man so tut, als existiere Antisemitismus in Deutschland nicht. Aber da kenne ich mich nicht aus. Ich halte nur totale Freiheit für sehr problematisch. Da bin ich nicht dafür.


Rechtverblüffend: Lass uns zu dir als Person kommen: Geboren wurdest du in Gorki, 1995 seid ihr nach Deutschland gekommen und aufgrund deiner Tätigkeit als international erfolgreicher Musiker liegt es auf der Hand, dass du viel gereist bist, viele Länder gesehen und Kulturen kennengelernt hast. Wie betrachtest du das Krisenmanagement Deutschlands?


Levit: Ich habe keinen Vergleich, denn im letzten Jahr war ich in keinem anderen Land. Ich glaube schon, dass Deutschland in der ersten Hälfte dieser Pandemie gesamtgesellschaftlich eine sehr gute Arbeit geleistet hat. Was nicht heißt, dass es nicht meine Branche zum großen Teil komplett allein gelassen hat. Was später an Krisenmanagement kam, das wir beispielsweise 15 Monate nach Beginn der Pandemie noch immer keine Filteranlage in Schulen etc. haben, ist atemberaubend und ein politisches Versagen. Insofern glaube ich, in dieser allerersten Zeit, wo ein “auf Sicht fahren“ nachvollziehbar war, ist es gelungen, einen Solidaritätsgedanken entstehen und aufleben zu lassen. Hier hat die deutsche Politik einen sehr guten Job gemacht. Und bis heute gibt es auch Politikerinnen und Politiker, die einen sehr guten Job machen, ich habe auch ganz großartige politische Arbeit in diesem Jahr erlebt. Aber gesamtpolitisch finde ich es zum Teil dramatisch. Insofern gibt es zwei Seiten im Krisenmanagement.


Rechtverblüffend: Neben dem äußeren Blick auf den Zusammenhang zwischen Kunst und Krise interessiert mich natürlich auch deine ganz private Krisenbewältigung. Wie verarbeitest du Krisen...


Levit: Indem ich sie...


Rechtverblüffend: ...musikalisch?


Levit: musikalisch??


Rechtverblüffend: Musikalisch.


Levit: (schweigt)


Rechtverblüffend: Wie gestaltet sich beispielsweise dein musikalisches Programm mit Öffnung der Kultureinrichtungen?


Levit: Also ich habe zwei existentielle Krisen erlebt in meinem Leben. Oder sagen wir drei. Es gab Mahlers Tod, da hat mir Musik überhaupt nicht geholfen. Gar nicht. Geholfen haben Menschen.


2016 starb Levits enger Freund, der Künstler Hannes Malte Mahler, bei einem tragischen Fahrradunfall. Levit widmete ihm das Album „Life“.


Es gab im engsten Kreis sehr dramatische gesundheitliche Krisen, auch da hat Musik nicht geholfen. Auch da haben nur Menschen geholfen. Und es gab dieses Jahr, und da hat Musik geholfen. Mehr noch – da hat Töne machen geholfen, ich höre irgendetwas und das gibt mir Halt. Das war auch für mich in meinem Leben neu. Ich mache jetzt ein paar Jahre Musik. So heilend, so haltgebend habe ich sie noch nie erlebt. Aber in anderen Krisen hat sie mir überhaupt nichts gebracht.

„Für mich war das befreiend, für mich war das ein Emanzipationsjahr (...)“

Rechtverblüffend: Du ziehst in „Hauskonzert“ selbst das spannende Resümee, dass die lange Zeit des Nichtauftretens zu einer großen psychischen Entlastung deinerseits geführt habe, weil „der ganze Perfomance-Druck“ raus sei.


Levit: Ja.


Rechtverblüffend: Alles fühle sich leichter an, beschreibst du. Ist das eine Chance dieser Krise? Und was kann das vielleicht auch gesamt-gesellschaftlich bedeuten?


Levit: Weiß ich nicht. Das ist mir zu groß. Für mich war das befreiend, für mich war das ein Emanzipationsjahr, was natürlich auch daran liegt, dass ich mir diesen Raum habe leisten können. Ich persönlich hatte keine finanziellen Existenzängste. Ich konnte mir Raum und Zeit nehmen. Viele andere konnten das nicht. Insofern glaube ich, es wäre zynisch, wenn ich jetzt für andere sprechen würde.


„Ich befürchte, dass es sehr schnell gehen wird, dass Menschen vergessen. Und all das, was war, abtun als ein Albtraum, der nicht mehr da ist.“


Rechtverblüffend: Zu guter Letzt: Was passiert gerade mit der Musik? Welche Entwicklungen kannst du für sie prognostizieren?


Levit: Also erstmal passiert mit der Musik gar nichts, es wird weitergespielt. Eben – von wegen „Branche tot“. Es wird weitergespielt und weitergehört. Ich hoffe natürlich immer auf mehr Öffnung, mehr Internationalität, weniger Hierarchien etc. Wir werden sehen, ich kann es dir nicht sagen. Ich befürchte, dass es sehr schnell gehen wird, dass Menschen vergessen. Und all das, was war, abtun als ein Albtraum, der nicht mehr da ist.


Rechtverblüffend: Möglicherweise findet also kein Bewältigungsprozess der Vergangenheit statt?


Levit: Wir werden sehen. Ich glaube bei einigen wird er nicht stattfinden, weil die sich einfach freuen wieder zu dürfen, was ich echt nachvollziehen kann. Das tue ich auch. Aber ich werde nicht so tun, als hätte es die vergangenen 15 Monate nicht gegeben. Ist halt ein bisschen kompliziert, weil sich politisch in diesem Wahljahr viel verändert, wir kriegen eine neue Regierung, einige werden nicht mehr da sein, andere schon. Wir werden sehen, was bewältigt wird. Ich kann nur für mich sprechen: Ich habe in den vergangenen 15 Monaten eine Nähe und eine Unmittelbarkeit mit dem Publikum erlebt, die für mich unglaublich ist. Ich habe durch dieses Freispielen, durch das Einfach-machen-dürfen, was ich musikalisch wollte, einen Freiheitsgrad gewonnen. Und den lasse ich mir nicht mehr nehmen.


(Überlegt)


Ach, ich habe auch keine Ahnung. So schlau bin ich dann auch nicht.


„Hauskonzert“, geschrieben gemeinsam mit dem Journalisten Florian Zinnecker, ist seit dem 12. April 2021 erhältlich.




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