Lützerath: Rückblick auf einen demokratischen Seiltanz
Die Geschehnisse in Lützerath lassen sich weder mit einer Verteidigung von Protest noch mit einer Verteidigung von Staatsgewalt erklären. Hier spielte sich mehr ab – vor Ort, wie auch in Politik und Medien. Der Versuch einer Einordnung.
von Jonathan Mehlfeldt

© Lilly Merck
Zunächst die Sachlage, denn in Lützerath ging es maßgeblich um zwei Dinge: Zwischen RWE, dem Bundeswirtschaftsministerium und dem Wirtschaftsministerium NRW wurde ein Kompromiss geschlossen: RWE zieht den Kohleausstieg um 8 Jahre vor, darf bis dahin jedoch mehr Kraftwerke betreiben. In diesem Zusammenhang wurde auch daran festgehalten, den Tagebau Garzweiler auf das Gebiet des Dorfes Lützerath zu erweitern und dieses abzubaggern. Während sich die NRW-Landesregierung auf ein Gutachten beruft, das die Kohle unter Lützerath als notwendigen Beitrag zur Energiesicherheit Deutschlands einschätzt, führen Klimaaktivist:innen Studien an, die keinen Bedarf an der Ausbaggerung Lützeraths feststellen können.
Daneben entschied das Oberverwaltungsgericht für NRW, dass das Aufenthaltsverbot für Lützerath Bestand hat und daher auch unter Anwendung unmittelbaren Zwangs durchgesetzt werden kann. Die Räumung des besetzten Dorfes begann am 11. Januar 2023 und wurde 4 Tage später – einen Tag nach der medienwirksamen Großdemonstration – für beendet erklärt.
Die Balance der Interessenvertretung
Die Diskussion um die Abbaggerung Lützeraths ist aus politischer und juristischer Sicht beendet. Die Räumung wie auch die Durchsetzung des Aufenthaltsverbots durch die Polizei waren legitim – soweit sie innerhalb der rechtlichen Grenzen abliefen.
Es würde jedoch zu kurz greifen, allein deshalb schon jeglichen Protest als zwecklos oder falsch darzustellen. Denn ob mit einem juristischen oder politischen Abschluss eine Immunität gegenüber gesellschaftlicher Bewertung einhergeht, ist eine Frage, die im Kern auf einen verfassungstheoretischen Streit zurückzuführen ist.
Die Demonstrationen in Lützerath begründen sich nicht allein in einer fehlenden Akzeptanz hoheitlicher Maßnahmen oder des staatlichen Gewaltmonopols. Vielmehr erwehren sich die Demonstrant:innen der politischen und wirtschaftlichen Handlungsmaximen. Gegenstand des Protests ist also die Zurückweisung einer politischen und wirtschaftlichen Kultur, deren Ausprägung der RWE-Kompromiss ist.
Der Protest gegen die Durchsetzung des Kompromisses und des Aufenthaltsverbots stellt sich insofern als eine Reaktion auf die unmittelbarste Ausprägung dieser kritisierten Politik dar. Ob die Äußerung dieser Kritik in Lützerath angebracht ist, entscheidet sich nach den Maßstäben, die an politische Entscheidungen zu stellen sind: Inwiefern können Politiker:innen an die Interessen der Demonstrant:innen gebunden sein?
Das deutsche politische System geht grundsätzlich vom Modell des „freien Mandats“ aus: Artikel 38 des Grundgesetzes unterwirft die Abgeordneten des Deutschen Bundestags eindeutig nur ihrem eigenen Gewissen. Dieses Konzept bestimmt das Verhältnis zwischen politischer Meinungsbildung und der Relevanz von gesellschaftlich geäußerten Interessen. Denn obwohl die Umsetzung von Volksinteressen Grundlage jedes demokratischen Systems ist, sind die deutschen Abgeordneten gerade nicht den Aufträgen ihrer Wähler:innen verpflichtet. Edmund Burke – ein früher Verfechter des Konzepts des freien Mandats – sagte in diesem Sinne: „Euer Repräsentant […] verrät euch, statt euch zu dienen, wenn er sein Urteilsvermögen eurer Meinung opfert.“
Die für Demonstrationen grundlegende Perspektive steht in direktem Widerspruch zu dieser Auffassung. Die Aktivist:innen in Lützerath äußern ihre Meinung gerade mit dem Anspruch, dass ihre Interessen schon künftig politisch reproduziert werden, bevor sie – wie formal vorgesehen – erst indirekt durch Wahlen eingebracht werden können. Dieses Modell des sogenannten „imperativen Mandats“ ist das konzeptionelle Gegenstück des freien Mandats.
Beispielhaft dafür steht die Sicht der Demonstrant:innen, im Rahmen des RWE-Kompromisses habe die Partei der „Grünen“ mit in der Wahl versprochenen Werten gebrochen: Die Repräsentant:innen hätten ihre Wähler gerade verraten, indem sie die von Ihnen zu vertretenen Interessen zugunsten politischer und wirtschaftlicher Motivationen opferten.
Die Situation in Lützerath war daher die Konkretisierung einer Diskussion um den grundlegenden Prozess der politischen Repräsentation: Auf der einen Seite steht die legitime Durchsetzung einer juristisch bestätigten politischen Entscheidung, auf der anderen der legitime Ausdruck gesellschaftlicher Bewertung mit umstrittenem Anspruch auf ihre politische Umsetzung. Diese Balance wird jedoch verschoben, sobald sich eine Seite illegitimer Mittel bedient.
Gleichgewichtsverlust durch Gewalt
Die Gewalt gegen Polizeibeamte ist der am deutlichsten geäußerte Kritikpunkt an dem Verhalten der Aktivist:innen in Lützerath. Bereits der Aufruf zu Gewalt enthält das Eingeständnis, dass die legitime Wirkungskraft der Demonstrationen nicht ausreicht, um ihr Ziel zu erreichen. Eine in diesem Verständnis vorgenommene Verletzung von Polizist:innen ist durch keine demokratieverbundene politische Meinung zu rechtfertigen. Schon konzeptionell muss Gewalt gegen (alle) Menschen ausgeschlossen sein, wenn es um den inklusiven Schutz von Menschenleben und menschlicher Gesundheit vor den Gefahren der Klimakrise geht. Auch rational lässt sich zwischen verletzten Beamt:innen und Veränderungen im politischen System im Sinne der Verletzenden keine Kausalkette bilden. Solche rationalen Überlegungen lassen Emotionen zwar per definitionem unberücksichtigt, doch auch sie können Gewalt nicht rechtfertigen.
Allerdings müssen sich Polizei und Regierungen eine ähnliche Kritik anrechnen lassen. Neben den Methoden der Räumungen in Lützerath drücken insbesondere Bilder prügelnder und stürmender Polizeibeamt:innen eine Gewalt aus, die der Vorstellung von ordentlicher Polizeiarbeit fremd sein sollte.
Auch der grundlegende Kompromiss mit RWE ist – nicht zuletzt aus Sicht der Aktivist:innen – nach dem Konzept der Gewalt zu beurteilen. Denn die Nutzung der Kohle unter Lützerath gefährdet Menschenleben, indem sie die Prozesse der Klimakrise und deren Auswirkungen weiter verstärkt. Dass der Abbau dieser Kohle laut zumindest einigen Berechnungen energiewirtschaftlich gar nicht notwendig ist, verschärft diese moralische Einschränkung noch.
Im Rahmen dieser gegenseitigen Kritik fallen Schlagwörter wie „Polizeigewalt“, „kriminell“ und „Widerstand gegen die Staatsgewalt“. Was damit ausgedrückt werden soll, ist ein Legitimätsverlust. Gewalt stellt einen Vertrauensbruch dar, regelmäßig auch einen Bruch der Rechtsordnung. Sie ist in dem Kontext um Lützerath aber vor allem ein Verrat der eigenen Werte – sowohl des Staates und der Polizei als auch der Klimabewegung.
Die Darstellungen roher Gewalt überschreiten das, was einer politischen Sphäre zugeschrieben werden kann. Sie sind ein Ausbruch aus dem Rahmen staatlich organisierter Zivilisation. Wer solche Gewalt verübt, stellt sich nicht nur über den legitimen Meinungskampf, sondern gänzlich abseits der Gesellschaft.
Die medienwirksame Unterstellung dieses Legitimitätsverlusts ist insofern das mediale Pendant des politischen Meinungskampfs; sie ist ein Versuch, das Narrativ der Gegenseite auszuhebeln und die Diskussion auf eine nächste Ebene zu bringen. Die demokratische Balance zwischen Staat und Aktivist:innen wird nur gehalten, sofern der Anspruch einer Seite nicht durch einen Legitimitätsverlust aus dem Gleichgewicht gerät – oder eben solange, wie sich beide Seiten einen vergleichbar schweren Legitimitätsverlust vorwerfen.
Seiltanz auf der politischen Bühne
Lützerath war zunächst ein Ort des Protests, galt dann als ein Ort des Widerstands und entwickelte sich schließlich zum Symbol für den Meinungskampf im Spannungsfeld des zivilen Ungehorsams. Ähnlich wie der Hambacher Forst stellt das Dorf aus einer Perspektive der politischen Ästhetik auch eine gewisse Emanzipation der Klimabewegung dar: Statt im Demonstrationszug überwiegend mündlich Kritik an abstrakten Strukturen der politischen und wirtschaftlichen Sphäre zu üben, konnte man sich hier in physischer Form innerhalb tatsächlich einnehmbarer Orte an konkreten politischen Entscheidungen und ihren Durchsetzungen abhandeln. Die Klimabewegung macht ihren Anspruch auf Veränderung durch Besetzungen realer und aufdrängender. Parallel dazu tritt der systeminhärente Widerstand gegen den Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems in Großeinsätzen der Polizei in die Wirklichkeit: Die Konzepte von Politik und Aktivismus treffen in konkreten Manifestationen physisch aufeinander, statt sich im abstrakten Meinungskampf bloß gegenüberzustehen.
Die Geschehnisse in Lützerath illustrieren letztlich einen demokratischen Seiltanz zwischen Balance und Gleichgewichtsverlust. Auf allen Bedeutungsebenen gilt: Wer nachgibt, verliert.