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Liquidierung Memorials: Das Vorspiel zum Angriffskrieg gegen die Ukraine?

Am 28.12.2021 hat das Oberste Gericht Russlands das Verbot der Menschenrechtsorganisation Memorial beschlossen. Einen Tag darauf hat das Stadtgericht in Moskau die Auflösung des gleichnamigen Menschenrechtszentrums beantragt. Am 28.02.2022 wurde die Revision der Organisation abgelehnt und am 5. April die Liquidierung beschlossen. Dabei stellt sich die Frage: Warum ausgerechnet jetzt?


von Aleksandra Ratajczak

© Rina de Vries



Menschenrechtszentrum von Memorial wird aufgelöst


Im Dezember 2021 wurde die gerichtliche Anordnung der Auflösung der Dachorganisation Memorial sowie des Menschenrechtszentrums verfügt. Ohne Angabe von weiteren Gründen hat das Gericht ebenfalls einem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft stattgegeben, da Memorial angeblich gegen russische Gesetze verstoße. Die Organisation hat sich mit der Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit und der damit einhergehenden Verbrechen befasst und sich unter anderem für die Rechte politischer Gefangener, Minderheiten, Migrant:innen und der LGBTQIA+ - Community in Russland eingesetzt. Über die Jahre hinweg ist die Organisation auch über Russland hinaus tätig gewesen, hatte jedoch bereits in der Vergangenheit Probleme mit russischen Behörden: Sie wurde mehrmals zu Geldstrafen verurteilt, weil sich Memorial selbst nicht als ausländischer Agent bezeichnete, obwohl sie Zahlungen aus dem Ausland erhielt. Ein umstrittenes russisches Gesetz sieht aber vor, dass Empfänger von Zahlungen aus dem Ausland sich als Agenten bezeichnen müssen.


Memorial: eine Organisation im Zeichen der Aufarbeitung

Die Menschenrechtsorganisation Memorial wurde 1988 in Moskau gegründet. An der Gründung waren Menschenrechtler und Aktivist:innen um den Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow beteiligt. Nach offiziellen Angaben ging die Organisation aus der Massenbewegung der Perestroika hervor, die bereits um 1987 Initiativgruppen bildete. Der Einfluss Sacharows ist wohl einer der Gründe für die Auseinandersetzung Memorials mit der stalinistischen Vergangenheit und dem Kampf gegen das Nichtvergessen der sowjetischen Gräueltaten, die viele Menschen das Leben kostete. Des Weiteren umfassten die Aufgaben Memorials nach offiziellen Angaben der Organisation unter anderem das Listenführen der politischen Gefangenen in Russland. Andere Aufgaben waren: das Errichten von Denkmälern, das Durchführen wissenschaftlicher Untersuchungen, das Kuratieren von Ausstellungen, die Organisation von Lehrveranstaltungen in Bildungseinrichtungen, die soziale und juristische Betreuung von Opfern politischer Repression sowie deren medizinische Betreuung und Versorgung mit Medikamenten, das Abgeben öffentlicher Stellungnahmen und die Durchführung von Aktionen zur Gestaltung eines demokratischen Rechtsstaates, der einen Rückfall in einen totalitären Staat ausschließt, die Entsendung von unabhängigen Beobachtern in Konfliktgebiete und die Veröffentlichung von Berichten über Menschenrechtsverletzungen. In Kürze: Memorial hat sich mit der Forschung und Aufklärung vergangenen Unrechts und der Dokumentation der aktuellen Menschenrechtsverletzungen beschäftigt. Und das war der russische Regierung wohl ein Dorn im Auge.

Das russische Gesetz zu ausländischen Agenten


Bereits in der Vergangenheit berief sich die russische Justiz auf einen Verstoß gegen das Gesetz für ausländische Agenten, wonach Empfänger von Zahlungen aus dem Ausland als Agenten bezeichnet werden müssen. Memorial ist seit 2016 in Russland als „ausländischer Agent“ registriert, weil die Organisation teilweise aus dem Ausland finanziert wird. Das Gesetz ist im Jahr 2012 in Kraft getreten und galt ursprünglich nur für Nichtregierungsorganisationen, die Unterstützung aus dem Ausland erhalten. Im Jahr 2019 wurde das Gesetz erneuert und die Definition, wer zu den sogenannten ausländischen Agenten zählt, erweitert. Dieser Begriff hat zum Ziel, eine abschreckende Wirkung zu entfalten. Sobald eine Person oder Organisation mit dem Begriff „ausländischer Agent“ gekennzeichnet ist, muss sie in ihre Veröffentlichungen einen Haftungsausschluss hineinschreiben, der auf ihren Status hinweist. Dies schreckt nicht nur Werbetreibende ab; vielmehr ist der Begriff an sich von einem negativen Beigeschmack aus der Sowjetzeit geprägt, er suggeriert: Spionage. Zudem müssen die mit dem Status gekennzeichneten Personen oder Organisationen alle sechs Monate Finanzübersichten und Berichte über die Aktivitäten bei der Regierung einreichen und sich einer jährlichen Überprüfung unterziehen. Es wird geglaubt, dass das Gesetz dem Zweck dient, kremlkritische Meinungen zu unterdrücken. Der Kreml behauptet jedoch, dass das Gesetz Russland allein vor ausländischer Einmischung schütze.


Vorwürfe gegenüber Memorial


Memorial wurde vorgeworfen, dass sie in einigen Publikationen - vor allen den älteren - nicht darauf hingewiesen haben, dass sie ein „ausländischer Agent“ im Sinne des russischen Gesetzes seien. Daraus kamen andere Vorwürfe, etwa, dass durch Informationsmangel der Schutz von Minderjährigen nicht gewährleistet werden kann. Außerdem, dass die Organisation Terrorismus und Extremismus verherrliche. Dies sei wohl der Grund gewesen, die Organisation zu verbieten und das gleichnamige Menschenrechtszentrum aufzulösen. Memorial legte Revision gegen das Urteil ein, welche jedoch am 28.02.2022 abgelehnt wurde. Die offizielle Liquidierung der Organisation fand am 05.04.2022 statt. Vom EGMR wurde zwar die Aussetzung der Auflösung gefordert - dass dies Konsequenzen haben wird, ist jedoch unwahrscheinlich. Der EGMR forderte von Russland, das Urteil und die Liquidierung so lange auszusetzen, bis es die Klage über das ausländische Agenten-Gesetz behandelt hat, die im Jahr 2013 von Memorial-Verbänden vorgebracht wurde. Auch diese Forderung blieb jedoch ohne Erfolg.


Das Urteil: Das Widerspiegeln der mangelnden richterlichen Unabhängigkeit in Russland


Der EGMR hat bereits in mehreren Fällen festgestellt, dass das Recht auf ein faires Verfahren in Russland oft eingeschränkt ist. Richter:innen sind oft korrupt und stellen sich zunehmend an die Seite der Staatsanwaltschaft, auch wenn die Beweise offensichtlich gefälscht sind - oder es erst gar keine gibt. Menschenrechtler vermuten, dass es ein Mittel ist, um Aktivist:innen und Menschenrechtler zum Schweigen zu bringen und regierungskritische Stimmen zu dämmen. Eine große Gefahr für das faire Verfahren im Lande ist die Tatsache, dass es an Überwachungs- und Überprüfungsinstrumenten fehlt, die die Justiz bei korrupten und unmoralischen Verhalten zur Rechenschaft zieht. Durch das Fehlverhalten der Justiz werden Tätigkeiten von Menschenrechtsorganisationen zunehmend kriminalisiert und stigmatisiert und Grass Root-Movements auf dieser Ebene abgeschreckt. Das hat bereits jetzt und wird auch in Zukunft verheerende Auswirkungen auf die Menschenrechtssituation und die Demokratie im Lande haben. Das Beispiel von Memorial ist nur eines von vielen Fällen wo ein Urteil durch das russische Oberste Gericht voreilig und mit mangelnder Beweisführung vollzogen wurde.


Aus diesem Grund äußerte sich bereits vor der Revision Memorial selbst nur wenig hoffnungsvoll über die möglichen Ergebnisse der Berufung. Tatsächlich enden in Russland nur 0,4 % aller Strafverfahren mit einem Freispruch, eine besorgniserregend niedrige Zahl, zu der sich auch der UN- Menschenrechtsrat kritisch äußerte. Auch das dämmt die Partizipation der Bevölkerung an Menschenrechtsorganisationen und Protestaktionen, die sich gegen solche Urteile richten. Entweder man werde selbst als „ausländischer Agent“ eingestuft oder aber man wird eine Klage befürchten, falls man Nachforschungen veranlasst oder sich regierungskritisch im Internet äußert.


Die schweren Vorwürfe, die Ungewissheit, der Mangel an Überprüfungsinstrumenten des Fehlverhaltens der Justiz und die Gefahr - inklusive aller damit einhergehenden Konsequenzen - als kremlkritisch eingestuft zu werden sind wohl Gründe für die Hinnahme der Liquidierung der Organisation seitens der russischen Zivilgesellschaft.


Warum gerade jetzt?


Die Frage lässt jedoch keine Ruhe: Warum wurde gerade jetzt die Liquidierung beschlossen? Es scheint wenig überzeugend, dass die größte Nichtregierungsorganisation in Russland, die für ihre kremlkritischen Äußerungen bekannt ist, rein zufällig vor dem Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine aufgelöst wird. Wie man unter anderem an gescheiterten Forderungen des EGMR oder auch der aktuellen Entwicklungen im Angriffskrieg gegen die Ukraine sehen kann, ist die russische Regierung nicht willens, völkerrechtliche Gebote zu befolgen. Vielmehr wurden diese, ebenso wie Kritik aus dem westlichen Ausland, schon vor dem Krieg als „russophobe Propaganda“ proklamiert. So ähnlich hat es sich im Falle der Auflösung von Memorial zugespielt. Die Kritik wurde von den Regierenden als russophob und die Arbeit von Memorial als russenfeindlich dargestellt. Eine Reihe von grotesken Falschinformationen hat die jahrelange Arbeit von Memorial nicht nur abgewertet, sondern sie als dem Terrorismus nahestehende Arbeit betitelt. Ein Spiel von Verzerrung, Behauptungen und dem Umdrehen von Tatsachen begann und führte bei Bürger:innen gezielt zur Unsicherheit und Distanzierung von der Organisation. Dies könnte jedenfalls erklären, warum trotz der andauernden Erinnerungsarbeit Stalin so populär im Land ist, wie seit Langem nicht mehr. Was ist noch Fakt? Was ist Fiktion? Macht es überhaupt einen Unterschied, dies zu wissen? Wer behauptet, die Berichterstattung sei Fiktion, wird womöglich zum russenfeindlichen Staatsfeind oder gar Terrorist:in erklärt. Wenn nicht, führt die nüchterne Erkenntnis, den Staatsinstrumenten gegenüber machtlos zu sein, zur Desillusionierung. Nicht selten mündet das in Paranoia.


Dies könnten Gedankengänge der Zivilist:innen zur Liquidierung von Memorial aber auch zum andauernden Krieg sein. Die Schließung von Memorial vor dem Angriffskrieg könnte als ein Vorspiel interpretiert werden, in welchem die russische Staatsspitze zeigt, dass sie mit der Zivilgesellschaft machen kann, was sie möchte. Eine Herrschaft der Angst und Kontrolle unter dem Deckmantel einer Republik und das Profanieren wichtigster staatlicher Institutionen, die wie Marionetten nach dem Willen des Kremls tanzen. Wer traut sich da noch, zu widersprechen?


Memorial, die es nach Ansicht Putins wagen würde, wurde entsprechend mundtot gemacht. Womöglich fürchtete man eine der einzigen oppositionellen Stimmen im Land und ihren Einfluss im Ausland in den Zeiten der kriegerischen Machenschaften Putins. Das Aufarbeiten der Geschichte passe einfach nicht in eine Zeit, in der ein Krieg mit Falschinformationen und Verdrehungen der historischen Ereignisse durch Putin gerechtfertigt wird.

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