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Rechtsstreit der EU mit Polen: Quo vadis?

Am 7. Oktober 2021 hat das polnische Verfassungsgericht festgestellt, dass Teile des Europarechts mit der Verfassung Polens unvereinbar sind. Wie kann es sein, dass ein Land einen Grundpfeiler der EU in Frage stellt, welcher spätestens seit Van Gend en Loos unstrittig angenommen wird – und was sind die Konsequenzen dieses Urteils?


von Aleksandra Ratajczak


© Antonia Hinterdobler.

Kurz nach der Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts stellt man sich die Frage, was ihr Ziel gewesen ist. Viele Personen befürchteten, dass die polnische Regierung einen „Polexit“ plant, d.h. einen Austritt aus der Europäischen Union. Aber bildet es die Meinung der Mehrheitsbevölkerung ab? Schließlich ist Polen einer der größten Geldnehmer in der Union. Zudem arbeiten viele Pol*innen im Ausland und haben oftmals die doppelte oder mehrfache Staatsbürgerschaft. Ein Austritt Polens aus der EU würde somit nicht nur rechtsstaatliche, finanzielle und administrative Probleme Polens mit sich ziehen, sondern vielen Menschen das Leben um einiges erschweren.


Plant Polen den „Polexit“?


Dabei lief es doch so gut: Nach dem Eintritt in die EU im Jahr 2004 galt Polen als Best Practice Case im Vergleich zu den anderen Staaten die im Zuge der Osterweiterung der EU beigetreten sind (Estland, Lettland, Litauen, Malta, Slowenien, Slowakei, Tschechien, Ungarn, Zypern). Die Verdopplung des Bruttoinlandsprodukts, die Exportsteigerung, die Verbesserung der Infrastruktur und Verringerung der Arbeitslosigkeit boten versprechende Aussichten auf die Zukunft des Landes an. Die Finanzkrise 2007/08 machte jedoch besonders den sozial schwächeren Kreisen in Polen zu schaffen, die überwiegend von der Politik vernachlässigt worden sind. Darauf baute die PiS-Partei auf, die durch soziale Versprechungen mit durchgehender EU-Skepsis im Jahr 2015 die Präsidenschafts- und die Parlamentswahlen gewonnen haben.


Die PiS-Partei baute ihren Wahlkampf sowie ihre Politik auf polemischen Aussagen und der Rhetorik der Angst auf, die sich bis heute noch fortführt: Von dem Krieg in der Ukraine, bis zu der Migrationswelle im Jahr 2015 und einer durchgehenden Europa-Skepsis der Partei mit Slogans wie „ die Brüssler Okkupanten“, kam es zur europakritischen Einstellung bei den PiS-Wählenden. Zwar sind die meisten Pol*innen pro-europäisch eingestellt, es ist jedoch eine grundlegende Steigung der Europaskepsis im Land zu spüren, vor allem wenn es um den Bereich Migration, Kontrolle der Außengrenzen und Klimawandel geht.


Die Medienpolitik der PiS-Partei


Seit dem Regierungsantritt der PiS Partei (die 2019 die Parlamentswahlen und 2020 die Präsidentschaftswahlen wiedergewonnen hat) werden deutliche Veränderungen im Land deutlich: Reformen im Justiz- und Bildungswesen standen ab 2015 auf dem Plan der Partei. Zunächst versuchten sie, Medien unter ihre Gewalt zu bringen, was im öffentlich-privaten Sektor gelungen ist. Der private Sektor hat es geschafft, sich als (in den meisten Fällen) oppositionelle, liberale Informationsquelle gegen die parteikonforme – und zum Teil zur Desinformation beitragende – Berichtserstattung in den öffentlich-rechtlichen Sektor zu etablieren.

Im Jahr 2021 ist die Partei massiv dagegen vorgegangen und hat zunächst eine neue Versteuerung von Medien eingeführt. Danach müssen Medienplattformen aller Art – zusätzlich zu der bisherigen Steuer – eine Steuer für Werbung bezahlen. Die Quote variiert je nach Art der Werbung. Das trifft besonders private Medien, die sich anders als öffentlich- rechtliche Medien meistens nur durch Reklame finanzieren können. Im selben Jahr wurde zusätzlich das Rundfunkgesetz erlassen. Ein Gesetz, das die Haltung der polnischen Medien in Händen der ausländischen Investierenden größtenteils verbietet. So müsste die Mediengruppe TVN, die sich in US-Besitz befindet, ihre Anteile bald verkaufen. Dies alles hat zum Ziel, die Medien „polnisch“ zu machen (was auch immer das bedeuten mag) und vor allem oppositionelle, private Medien an ihre Grenzen zu bringen, sodass die Mehrheit der Medien im Land im Staatsbesitz ist.


Die Justizreform


Was jedoch zur größten Kontroverse (auch außerhalb des Landes) geführt hat, ist die Justizreform, die seit 2015 im vollen Gange ist. Zunächst wurden im Jahr 2015 die Richter*innen am polnischen Verfassungsgericht nach und nach durch parteitreue Richter*innen ausgetauscht. Weitere Gesetzesnovellen machten das Verfassungsgericht von der Kontrolle des Sejms (eine der beiden Kammern des polnischen Parlaments) abhängig. Das Ruhestandsalter wurde beispielsweise auf 65 Jahre gesenkt, was viele Richter*innen zwang, frühzeitig in den Ruhestand zu gehen. Weitere Gesetze der PiS-Partei hatten zum Ziel, die Struktur der allgemeinen Gerichte zu verändern und betrafen zudem die Nationale Hochschule für Gerichtsbarkeit und Staatsanwaltschaft. Richter*innen durften seither nicht mehr eine mehrfache Staatsbürgerschaft besitzen, sondern allein die polnische. Im Jahr 2018 wurde zudem eine Disziplinarkammer gegen Richter*innen erschaffen. Dabei handelt es sich um ein Gremium, das die Immunität der Richter aufheben und sie sogar suspendieren kann. Das alles sind nur Bruchstücke der umfangreichen Justizreform.


Die Reaktion der Europäischen Union


Die EU betrachtete die Veränderungen in Polen mit großer Sorge. Es wurde befürchtet, dass durch die genannten Gesetzesentwürfe in der Justizreform die Unabhängigkeit der Judikative in Gefahr ist, was enorme Auswirkungen auf die Rechtsstaatlichkeit in Polen hätte. Nach einem fruchtlosen Dialog im Jahr 2016 mit der polnischen Regierung, folgte in 2017 das Vertragsverletzungsverfahren nach Art.7 EUV (Artikel zum Schutz der Grundwerte der EU, d.h. Demokratie, Gleichheit, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenwürde sowie Wahrung der Menschenrechte). Seitdem laufen auch mehrere Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV gegen Polen, die alle mit der Justizreform und den damit einhergehenden Veränderungen zu tun haben.


Kleine Schritte wurden bereits eingeleitet. So entschied der EUGH 2019, dass die nicht gerichtlich überprüfbare Befugnis des polnischen Präsidenten über die Amtszeitverlängerung von Richter*innen und deren Herabsetzung des Ruhestandsalters gegen das Europarecht verstößt und dass das Gesetz zur Senkung des Renteneintrittsalters von Richter*innen an ordentlichen Gerichten unionsrechtswidrig ist. Die vielen laufenden Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen verdeutlichen, wieviel Kopfschmerzen das Land der EU bereiten muss. Wenn sie jedoch nicht handelt und Polens Verhalten nicht rügt, setzt es nicht nur ein negatives Beispiel für andere Mitgliedsstaaten, sondern gefährdet die Rechtsstaatlichkeit und die europäischen Grundwerte in der gesamten Union. Die Kommission schlug daher relativ früh vor, mit Geldsanktionen zu drohen. Zunächst sollten der EU-Haushalt 2021-2027 und die damit einhergehenden Gelder mit der Kondition versehen werden, dass sich die Staaten an die Rechtsstaatlichkeit halten, falls sie finanzielle Mittel erhalten wollen. Polen und Ungarn drohten daraufhin Ende 2020 damit, das Haushaltspaket zu blockieren, welches einstimmig von den Mitgliedstaaten beschlossen werden muss. Daher einigte man sich auf eine interpretative Erklärung, die beschloss, dass die Konditionalitätsregel zwar ab Januar 2021 gelten solle, aber den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eingeräumt wird, das Rechtsstaatlichkeitsverfahren vor dem EuGH zu prüfen. Ein solches Verfahren könnte bis zu zwei Jahre dauern und beide Staaten müssten die Kürzung des Haushaltes in den folgenden Jahren nicht fürchten.


Da sich Polen jedoch immer noch weigerte, die fragliche Disziplinarkammer gegen Richter*innen abzusetzen, platze der EU im Oktober 2021 der Kragen: Der EuGH verhängte Sanktionen in Höhe von einer Million Euro pro Tag, solange Polen die Vorgehensweisen der Disziplinarkammer nicht abstellt. Zudem werden die Corona-Hilfsgelder in Höhe von 24 Milliarden Euro von der Union zurückgehalten. Polen spreche von „Erpressung“ und zeigt sich nicht bereit, die Sanktionen in naher Zukunft zu zahlen.


Aktuelle Entwicklungen


Im Oktober folgte der nächste Eklat: Polens Verfassungsgericht stellte fest, dass Teile der EU-Verträge und somit EU-Recht unvereinbar mit der polnischen Verfassung seien. Im Detail geht es um Regulierungen, die der EU erlauben, gegen die Justizreform in Polen vorzugehen. Die Kommission entgegnete, dass alle Entscheidungen des EuGH für die nationalen Gerichte bindend seien und dass das EU- Recht immer noch Vorrang vom nationalen Recht habe. Dem hat Polen bei dem Eintritt in die EU zugestimmt.


Polen beruft sich mit dem Handeln des Verfassungsgerichts auf die Ultra-Vires-Entscheidung im PSPP Urteil, in welchem die Karlsruher Richter*innen sich gegen eine Entscheidung des EuGH stellten. Anders als im Falle Polens hat Karlsruhe jedoch den Vorrang des Europarechts als Grundpfeiler der europäischen Integration nie in Frage gestellt, sondern einen einzelnen sekundären Rechtsakt einer EU-Institution als ultra vires erklärt. Die Entscheidung Polens rührt diesen Grundpfeiler an und hinterfragt somit die Funktionsweise der EU.


Polen ist und bleibt das Sorgenkind der EU. Warschau und Brüssel müssen schnellstmöglich zu einer Vereinbarung kommen, bevor die Situation weiter eskaliert. Eines ist jedoch festzuhalten: Zwar ist ein Polexit immer noch unwahrscheinlich, aber wie das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts gezeigt hat, ist nichts ausgeschlossen. Es ist zu erwarten, dass Polen in naher Zukunft weiterhin für Schlagzeilen sorgen wird.

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