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Scheinheiligkeit ausgetragen auf dem Rücken der Menschenrechte

Die EU glaubt nicht nur an die eigene Solidarität, sie brüstet sich öffentlich gar damit. Die EU-Kommissarin Ylva Johansson kehrt von der rumänisch-ukrainischen Grenze mit den Worten wieder: „Ich habe gesehen, wie europäische Werte ihre Wirkung entfalten. Solidarität in Aktion.“ Doch wie ernst gemeint ist diese „Solidarität“ angesichts des russischen Angriffskrieges in der Ukraine? Lassen sich darauf europäische Werte münzen?


von Anna Oedekoven


© Fabian Hassel


Der Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine wird nach wie vor weitestgehend als unbeantwortete Frage gehandelt. Die Tradition der EU-Flüchtlingspolitik lässt vermuten, dass vonseiten der EU bezüglich möglicher Solidarität zuallererst monetäre Gedanken eine Rolle spielen.


In diesem Licht wird wohl auch der bisher unbekannte Umgang mit Geflüchteten in Ungarn zu beurteilen sein. Ministerpräsident Viktor Orbán hat nicht nur politisch einige Gemeinsamkeiten mit dem erst kürzlich zum Feind erklärten Wladimir Putin, sondern war ihm in der Vergangenheit auch persönlich nah. Das Versprechen seitens Orbán, man nehme die Geflüchteten aus der Ukraine ohne weitere Prüfung auf, wurzelt in einer gemeinsamen Geschichte. Der Vormarsch des Kremls weckt auch in Ungarn schmerzhafte Erinnerungen. Orbán, der an der Grenze im funktionalen Gewand mit Jeans und Schnürstiefeln Menschen passieren lässt, ohne Papiere zu prüfen, gibt sich als Freund der Menschen, des Friedens. Doch bindet er die Willkommenskultur an seine Ideologie der illiberalen Demokratie. Ein Begriff, mitunter angelehnt an Putins politisches Weltbild. Ein Weltbild, das Orbán durch seine geplante Wiederwahl im April sattelfest machen möchte.


Mittlerweile ist bekannt, dass Menschen mit Ursprung in muslimischen Ländern nicht eben so die Grenze überqueren können. Warum genau bei diesen Menschen die Papiere geprüft werden, hat System. Es reiht sich in Orbáns Propaganda der Christdemokratie ein, in seine kupierte Rechtsstaatlichkeit. Schon lange mahnt Brüssel, die asylrechtlichen Regelungen und den Umverteilungsschlüssel der EU wirksam anzuwenden. Stattdessen baut Budapest Mauern und Zäune und weist Geflüchtete aus muslimischen Ländern ab, die nach der fremdenfeindlichen Rhetorik der rechtskonservativen Regierungspartei FIDESZ ohnehin nur nach einem besseren Leben suchten. Im Gegensatz zu Ukrainerinnen und Ukrainern, die vor Krieg flüchteten. Das ist nicht fair, nicht Recht.


Der neue Rechtsstaatsmechanismus soll hier eingreifen: Fördergelder aus der EU sollen an rechtsstaatliche Grundprinzipien gekoppelt werden und bei Verstößen gekappt und sanktioniert werden. Eine logische Konsequenz aus der Tatsache, dass EU-Gelder in Ungarn in die Korruption fließen, wo doch Korruption und Rechtsstaatlichkeit augenscheinlich im Konflikt stehen. Es werden mit diesen Geldern korrumpierte Beamtenapparate bezahlt, die sich wiederum auf den politischen Willensbildungsprozess auswirken, der sich auch in Brüssel niederschlägt. Ein Kreislauf auf Kosten Brüssels. Da hat die neuerdings so offene Flüchtlingskultur Ungarns einen bitteren Beigeschmack. Es stellt sich die Frage, ob der Mensch als solcher gesehen wird, oder bloß eine politische Agenda mit dem Ziel verfolgt wird, Brüssel zu besänftigen und wohlwollend zu stimmen. So oft der Vorwurf aus Budapest kam, Brüssel greife mit illegitimen rechtlichen Hebeln als Vergeltungsmaßnahme in Bezug auf Ungarns Handhabung in der Flüchtlingskrise in die ungarische Politik ein und wolle das Nationalverständnis der Ungarn stören, so kooperativ zeigt sich Budapests Regierung heute. Ein strategischer Feldzug auf Kosten von Menschenleben.


Das Aufnahmeverfahren an der ungarischen Grenze ist wiedermal nicht fair, es unterliegt subjektiven Kriterien, Menschenleben werden aufgewogen. Ob diese Kooperationsbereitschaft zwischen Budapest und Brüssel plötzlich ein Vertrauen aufbauen kann, ist stark zu bezweifeln. Die Wunden sind tief, die Orientierung auseinander. Auch in dieser Situation wendet sich die Budapester Regierung derweil nicht an die Kommission. Sie hält sich diese Situation vor, um diese Karte im richtigen Moment zu spielen. Wie kann die Kommission pekuniäre Sanktionen verhängen, wenn Ungarn doch gerade dabei ist, eine erhebliche Flüchtlingswelle zu bewältigen? Ungarn stellt bedingungslose Hilfe zur Verfügung - und soll dafür abgestraft werden?


Ob dies also die authentischen europäischen Werte sind, die seit Jahren in den laufenden Verfahren zu rechtsstaatlichen Verstößen behandelt werden, lässt sich in Frage stellen. Dass es sich bei der Aufnahme ukrainischer Geflüchteten um eine humanitäre Notwendigkeit handelt, um eine menschliche Verpflichtung, lässt sich angesichts der verheerenden Nachrichten aus der Ukraine nicht anzweifeln. Hier leistet Ungarn immense Hilfe und einen großen Dienst an der Menschlichkeit. Doch die Aufnahmesituation über die Grenzen der Nationalität hinaus deutet auf eine politische Agenda. Dies ungeachtet fortlaufen zu lassen wäre ein Verrat an all den Menschen, die unrechtmäßig, menschenunwürdig abgewiesen wurden. Die Europäische Union muss sich in ihren Werten vereinen, einer Öffentlichkeit zeigen, was sie verlangen und diese in einem fairen Verfahren durchsetzen. Der rechtsstaatliche Mechanismus darf nun nicht scheitern.

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