Sehnsucht nach der VI. Republik?
Zunächst ein Gedankenspiel: Man stelle sich vor, dass eine Partei, die seit Jahren im Parlament sitzt, Bürgermeister im ganzen Land stellt und deren Spitzenkandidat bei der letzten Wahl auf knapp 20% der Stimmen kam, im Bundestagswahlkampf eine neue Verfassung fordert. Und die Mehrheit der Bevölkerung der Idee grundsätzlich zustimmt. Unvorstellbar im Deutschland des Grundgesetzes, oder? Aber ein Blick auf die andere Seite des Rheins genügt um festzustellen, dass das in Frankreich (Verfassungs-)Realität ist. Sowohl Jean-Luc Mélenchon, Chef der linksaußen Partei France insoumise als auch der ehemalige Wirtschaftsminister Montebourg ziehen mit genau diesem Ruf nach einer neuen Verfassung - und damit dem Beginn der VI. Republik - in den Präsidentschaftswahlkampf.
von Johannes Müller
Die V. Republik
Die lauter werdenden radikalen Forderungen haben viel mit der geltenden Verfassung der V. Republik zu tun. Diese ist ein Kind de Gaulles. Als 1958 an ihn herangetragen wurde, das Amt des Präsidenten zu übernehmen, um den Algerienkrieg zu beenden, machte er eine neue Verfassung zur Bedingung seiner Machtübernahme.
Diese V. Republik wurde auf einen starken Mann an der Spitze ausgerichtet und versprach Stabilität nach einer Phase der Krisen und immer wechselnden Regierungen unter der vorherigen Verfassung. Der Preis war eine allmächtige Exekutive.
L’exécutive c’est moi
An der Spitze der Exekutive steht eine auf den ersten Blick komisch anmutende Doppelbesetzung: Der Präsident ist chef d’état (Staatsoberhaupt) und der Premierminister ist chef de gouvernement (Regierungschef), weshalb man – obwohl der französische Präsident im Vergleich zum US-Präsident im typisch präsidentiellen System eine mächtigere Position innehat – von einem semi-präsidentiellen System spricht.
Das erklärt sich mit De Gaulles Wunsch nach einem Präsidenten, der über allem Politischen steht und nur dem Land dient, eine „incarnation de la nation“ - einem Präsidenten, der die Nation als solche verkörpert. Dass diese Idee in der politischen Praxis - zumindest nach der Politisierung des Amtes durch die Direktwahl ab 1961 - gezwungenermaßen auf Probleme stößt, hat de Gaulle an eigenem Leib erfahren: Nachdem ein von ihm initiiertes Referendum scheiterte, trat er 1969 zurück.
Der Präsident hat eine gewaltige Machtfülle. Gemäß Artikel 10 der französischen Verfassung fertigt er die Gesetze aus und kann sie zur erneuten Debatte zurück ins Parlament schicken, das er nach Artikel 12 auflösen kann. Er kann dem französischen Volk Gesetze als Referendum vorlegen (Artikel 11) und schließlich kann der Präsident nach Artikel 16 angesichts einer menace grave et immédiate (einer „ernsten und unmittelbar bevorstehenden Bedrohung“) besondere Maßnahmen ergreifen, die dann nicht näher definiert sind. Diese Option, die pleins pouvoirs - die „volle Macht“- an sich zu nehmen und somit für eine gewisse Zeit alle verfassungsrechtlichen Einschränkungen seiner Macht auszuhebeln, hat der Präsident zusätzlich zu den Befugnissen im Rahmen der Ausnahmezustände, die aufgrund von Terror oder der öffentlichen Gesundheit eingeführt wurden.
Während der Präsident also die Nation verkörpert, soll der Premierminister sich um das alltägliche politische Geschäft kümmern. Er steht der Regierung vor und ist – anders als der Präsident – dem Parlament verantwortlich (Artikel 50). Er wird jedoch vom Präsidenten ernannt und kann ebenso von ihm entlassen werden (Artikel 8). Das macht ihn stark abhängig. Diese Dynamik wurde durch die Einführung des quinquennat im Jahr 2000 - der fünfjährigen Amtszeit des Präsidenten (zuvor waren es sieben Jahre) - noch verstärkt. Denn seitdem folgt die Parlamentswahl kurz nach der Präsidentschaftswahl. Das bedeutet, dass der Präsident, der schließlich gerade eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich versammeln konnte, aufgrund des Mehrheitswahlrechts normalerweise auch eine stabile parlamentarische Mehrheit hat. Dadurch wurde die Wahrscheinlichkeit einer sogenannten cohabitation - der Konstellation, in der Präsident und Premier anderen Parteien angehören - sehr gering.
Die Ohnmacht der Assemblée Nationale
Die Exekutive hat mehrere Möglichkeiten, großen Einfluss auf das Parlament zu nehmen. Da ist zunächst das System des Artikel 38. Demnach kann die Regierung über den Verordnungsweg Angelegenheiten regeln, die eigentlich unter die domaine de la loi, also eigentlich in die Kompetenz der Legislative fallen, wenn sie durch eine loi d‘habilitation und eine loi de ratification dazu beauftragt wird. Durch diesen Mechanismus muss das Parlament also nur noch bereits ausformulierte Texte der Regierung abnicken und ist nicht mehr direkt in den Gesetzgebungsprozess eingebunden. Von diesem Artikel wurde seit den 2000ern immer öfter Gebrauch gemacht, sodass mittlerweile mehr Regelungen auf diesem Weg verabschiedet werden, als „normale“ Gesetze über den Gesetzgebungsprozess. Nur ein Beispiel sind die ordonnances Covid, die seit März 2020 den Umgang mit der Pandemie regeln.
Schließlich verbindet der dritte Absatz des Artikel 48 die Verantwortlichkeit der Regierung mit der Verabschiedung eines Gesetzes: Der Premier kann seine Verantwortlichkeit vor der Assemblée einfordern und solange die Regierung innerhalb der nächsten 24 Stunden nicht gestürzt wird, gilt das Gesetz als verabschiedet. Angesichts der Tatsache, dass der Premier seit 2000 immer aus der Parlamentsmehrheit stammte, ist dieses Risiko gering. Somit können also umstrittenen Gesetze verabschiedet werden, ohne dass über sie abgestimmt wird - beispielsweise etwa die loi macron aus dem Jahr 2015 oder wohl auch die umstrittene Rentenreform.
Constitution 6.0?
Die Vorteile der aktuellen Verfassung liegen auf der Hand. Der Präsident kann klare, schnelle Entscheidungen treffen und durch seine Mehrheit im Parlament herrscht eine vermeintliche Stabilität. Ein nennenswerter Nachteil ist dagegen die Machtkonzentration, die in anderen demokratischen Systemen ihresgleichen sucht und zu Hybris und Machtmissbrauch einlädt – wie es nicht zuletzt die Affären um die Wahlkampffinanzierung Sarkozys zeigen.
Also eine neue Verfassung? Die bisherigen Reformvorschläge, also etwa das Parlament in seinen Kompetenzen zu stärken oder das septennat wieder einzuführen, gehen für viele an der Wurzel des Problems vorbei: Die Exekutive - insbesondere aber der Präsident - ist übermächtig, die Doppelbesetzung verhindert klare Verantwortlichkeit und das Parlament nickt nur noch Vorschläge der Regierung ab.
Deshalb lohnt es sich durchaus, einen Blick auf Vorschläge zu einer noch grundlegenderen Reform, nämlich einer echten neuen Republik zu werfen. Es könnte zum einen die exception française und damit ein System mit einem starken Präsidenten an der Spitze beibehalten werden. Oder aber es könnte zu einem parlamentarischem System zurückgekehrt werden.
Befürworter der ersten Alternative ist Ex-Präsident François Hollande. Er hält wenig von einer Wiederkehr des rein parlamentarischen Systems, was er vor allem mit einer Fragmentierung der Parteien und einer daraus folgenden Instabilität begründet. Seiner Meinung nach braucht es einen Präsidenten, der schnelle Entscheidungen fällen kann, die Macht hat diese durchzusetzen und dafür auch demokratisch legitimiert ist (wenig verwunderlich für jemanden, der dieses Amt selbst innehatte). Vielmehr schlägt er eine VI. Republik nach amerikanischem Vorbild vor: Der Premier soll abgeschafft werden, ebenso wie die Möglichkeiten der Exekutive, die Assemblé zu gängeln. Dadurch soll das Parlament zur echten Gegenmacht zum Präsidenten ausgebaut werden, ein französisches System der checks and balances also. Das soll alle Akteure zu einer größeren Kompromissbereitschaft zwingen, da die Exekutive nicht mehr ohne das Parlament regieren könnte. Eine cohabitation wäre möglich, aber nicht mehr innerhalb der Exekutive. Dies würde zu einer klareren Rollenverteilung führen. Dies scheint ein Weg zu sein, die Institution des Präsidenten zu erhalten, aber der extremen Machtkonzentration, die die jetzigen Verfassung vorsieht, entgegenzuwirken.
Beispielhaft für die andere Seite des Spektrums ist der Vorschlag der Convention pour la VIeme République um den ehemaligen Wirtschaftsminister Montebourg, einem weiteren (wenngleich wenig aussichtsreichen) Präsidentschaftskandidaten. Nach diesem parlamentarischen Verfassungsentwurf soll die zentrale Person der Premierminister als Regierungschef sein. Der Präsident wäre wieder für sieben Jahre gewählt (nach den Parlamentswahlen, nicht davor), hätte aber rein repräsentative Funktionen - vergleichbar etwa mit Österreich. Wirklich fraglich ist hierbei, ob den Zeiten der Instabilität in den parlamentarischen Systemen der III. und IV. Republik noch heute eine solche Abschreckungswirkung zukommt, dass eine Rückkehr in ein solches Regime in Frankreich ausgeschlossen ist. Mit einem parlamentarischen System wäre die Rolle des „Ersatz-Monarchen“, um dieses vom jetzigen Präsidenten gezeichnetes Bild aufzugreifen, jedenfalls endgültig Geschichte und Frankreich würde sich verfassungsrechtlich seinen europäischen Nachbarn annähern.
Die Forderungen nach einem radikalen Wandel der französischen Verfassungsstruktur sind so alt wie die V. Republik selbst. Schon Mitterand schimpfte über die damals noch recht junge Verfassung - was ihn jedoch nicht davon abhalten sollte, selbst die volle Macht des Präsidentenamts auszukosten. Es bleibt also abzuwarten, ob sich die Vorschläge der beiden Kandidaten nur als Gassenhauer entpuppen – immerhin gab es sie bislang fast in jedem Präsidentschaftswahlkampf. Durch den Machtgewinn Éric Zemmours und die Verfestigung der unversöhnlichen Atmosphäre der politischen Gegner hat Frankreich aktuell nämlich noch ganz andere Probleme. Aber vielleicht sind all das auch Vorboten eines zukünftigen grundlegenden Wandels in unserem westlichen Nachbarland. Wenn nicht 2022, dann in der mittelfristigen Zukunft. Denn durch die derzeitige Verfassungsstruktur ziehen sich schlichtweg einige fundamentale Fehler.