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Sollten wir mit Terroristen verhandeln? Hanns-Eberhard-Schleyer vor dem Bundesverfassungsgericht

Vor 43 Jahren wurde Hanns-Martin Schleyer von der zweiten Generation der linksextremistischen Terrororganisation RAF entführt, wochenlang als Geisel gehalten und schlussendlich brutal ermordet. In einem letzten Versuch, den Entführten zu befreien wendet sich der Sohn Schleyers an das Bundesverfassungsgericht, um die Bundesregierung zur Rettung des Entführungsopfers zu veranlassen. Vertreten wird er dabei u.a. von Dr. Klaus-Albrecht Gerstenmaier, der sich für uns bereit erklärt hat, die Ereignisse von damals nochmals wiederzugeben.


von Laurens Greschat

© Jolanda Olivia Zürcher.

Am Nachmittag des 5. September 1977 befindet sich der Arbeitgeberpräsident und Wirtschafts-Funktionär Dr. Hanns Martin Schleyer von einem Treffen der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände in Köln auf dem Weg nach Hause, seiner Wohnung in Köln-Braunsfeld in der Raschdodorffstraße 10. Als seine Wagenkolone gegen 17:25 Uhr in die parallel zu seiner Wohnung verlaufende Vincenz-Stratz-Straße einbiegt, muss Schleyers Fahrer plötzlich scharf abbremsen, denn die Straße wird blockiert von einem quer zur Fahrbahn abgestellten gelben Mercedes und einem daneben liegenden blauen Kinderwagen. In der Folge fährt Schleyers Begleitwagen mit Schritttempo auf den Mercedes des Arbeitgeberpräsidenten auf. In genau diesem Augenblick rennen von links vier Personen auf die beiden Fahrzeuge zu und eröffnen augenblicklich das Feuer. Mit gezielten Schüssen töten die Unbekannten sowohl die drei im Begleitfahrzeug sitzenden Polizeibeamten als auch den Fahrer der Schleyers Wagen steuert. Einer der unbekannten Täter zerrt Schleyer aus seinem Fahrzeug und schleppt ihn mit Hilfe eines zweiten in ein bereitstehendes Fluchtfahrzeug. Anschließend verlassen die Täter in schneller Fahrt den Ort des Geschehens.

Wenige Stunden später wird das abgestellte Fluchtfahrzeug von einer Polizeistreife in einer Tiefgarage entdeckt und mit diesem auch das erste Indiz auf die Identität der Entführer. Denn im Wageninneren finden die Ermittler eine Nachricht direkt gerichtet an die Bundesregierung unterzeichnet mit dem Kürzel: „RAF“.


Die linksextremistische terroristische Vereinigung „Rote Armee Fraktion“ hatte ihre Wurzeln in der gesellschaftlich angespannten Situation der 1960er Jahre. In dieser Zeit wuchs in der noch jungen BRD eine Generation heran, welche die Rolle ihrer Eltern, Angehörigen und Träger öffentlicher Ämter in der Zeit des Nationalsozialismus kritischer betrachtete. Bürgerlichkeit, Kapitalismus und auch die Demokratie wurden zunehmend in Frage gestellt. Vorbilder fand diese Generation in den Bürgerrechtsbewegungen der USA und den massiven Protesten gegen den Vietnamkrieg. Damals waren es überwiegend Studenten, die sich in der so genannten Westdeutschen Studentenbewegung beteiligten, und friedlich für eine Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und gegen staatliche Maßnahmen wie das 1968 verabschiedete Notstandsgesetz protestierten. Während jedoch die überwiegende Mehrheit dieser Studentenbewegung friedlich für ihre Forderungen demonstrierte, gründeten sich auch einige militante Splittergruppen, für die friedlicher Protest nicht genug war. Unter diesen militanten Splittergruppen ist auch die RAF zu verorten.

Im Anschluss an eine Diskussion zum Thema "Gewalt gegen Sachen" hatten Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Horst Söhnlein am 2. April 1968 mit Hilfe von Zeitzündern Brände in zwei Frankfurter Kaufhäusern gelegt, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren. Die Brandstifter wurden schnell gefasst und zu Haftstrafen verurteilt. Während des Prozesses kam die spätere Führungsebene der ersten Generation der RAF erstmals zusammen. Horst Malhler vertrat den Angeklagten Baader als Anwalt und Ulrike Meinhof war als Reporterin anwesend. Die anberaumten Haftstrafen traten die Verurteilten jedoch nie an. Nachdem sie Revision beim Bundesgerichtshof beantragt waren, kamen sie zunächst frei, um anschließend nach Ablehnung des Antrags unterzutauchen und den Entschluss zu fassen, eine Stadtguerrilla nach Lateinamerikanischen Vorbild zu gründen. Zur Umsetzung dieses Vorhabens kam es jedoch nicht, denn Baader wurde im Zuge einer fingierten Verkehrskontrolle festgenommen. Die eigentliche Geburtsstunde der RAF liegt in den Vorgängen, die sich in den nächsten Wochen entfalten sollten. Nach der Festnahme beschlossen die übrigen RAF-Mitglieder den inhaftierten Baader zu befreien. Um dieses Ziel zu erreichen, inszenierten sie eine Befragung des inhaftierten Baaders durch die Journalistin Meinhof unter dem Vorwand, ein Buch über Heimzöglinge schreiben zu wollen. Bei dieser Gelegenheit wurde Baader unter Anwendung von Waffengewalt befreit und ein Gefängnissangestellter schwer verwundet. Anschließend setzten sich die Mitglieder der RAF nach Jordanien ab, wo sie in einem Camp der palästinensischen Fatah im Umgang mit Waffen ausgebildet wurden. Nach ihrer Heimkehr führte diese erste Generation mehrere Banküberfälle durch, um sich zu finanzieren und verübte sechs Bombenanschläge im Zuge der "Mai-Offensive" 1972, auf in Deutschland stationierte amerikanische Soldaten, Einrichtungen der Polizei in Augsburg und München, einen Richter des BGH und das Verlagshaus der Axel-Springer AG. Der Anschlagsserie fielen insgesamt vier Menschen zum Opfer, verletzte weitere 70 und führte zu einer Phase der intensivierten Großfahndung nach den Terroristen. Im Zuge dieser Großfahndung gelang es den staatlichen Kräften, die Terroristen ausfindig zu machen, zu stellen und schlussendlich in der JVA Stammheim bei Stuttgart zu inhaftieren.


Trotz der Inhaftierung sollten jedoch die terroristischen Aktivitäten der RAF nicht abreißen. Angestachelt von Publikationen der Inhaftierten ersten Generation aus dem Gefängnis sollte sich schon 1975 eine zweite Generation der RAF zusammenfinden und terroristisch aktiv werden. Diese zweite Generation verfolgte lediglich ein Hauptziel: die Befreiung der inhaftierten ersten Generation. Ab 1975 entführten sie namenhafte Politgrößen, wie den CDU-Politiker Peter Lorenz, den sie im Austausch gegen fünf inhaftierte RAF-Mitglieder wieder freiließen, ermordeten Generalbundesanwalt Siegfried Buback, sowie den Vorstandssprecher der Dresdener Bank und besetzten die deutsche Botschaft in Stockholm, die sie auch noch versehentlich sprengten. Ein weiterer Anschlag am 25. August 1977 auf das Gebäude der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe scheiterte nur durch Zufall, da der selbstgebaute Racketenwerfer der RAF versagte.


Am Nachmittag des 5. September 1977 entführten sie Hanns-Martin Schleyer und hielten ihn bis zu seinem Tode am 18. Oktober 1977 gefangen. Alle Versuche, den Entführten ausfindig zu machen scheiterten, darunter auch der Versuch Schleyer gegen Lösegeld austzutauschen.

In einem letzten Versuch den eigenen Vater zu befreien, wandte sich der Sohn Schleyers an das Bundesverfassungsgericht, um die Bundesregierung zur Rettung des Entführungsopfers zu veranlassen. Vertreten wird er dabei u.a. von Dr. Klaus-Albrecht Gerstenmaier, der sich für uns bereit erklärt hat, die Ereignisse von damals nochmals wiederzugeben.


Rechtverblüffend: Inwieweit waren Sie damals mit dem Fall befasst?


Dr. Klaus-Albrecht Gerstenmaier: Hanns-Eberhard, der älteste Sohn von Hanns-Martin Schleyer, und ich waren im Jahre 1977 beide Partner einer Stuttgarter Anwaltskanzlei. Am 5. September 1977 wurde Hanns-Martin Schleyer von Terroristen der Rote-Armee-Fraktion in Köln entführt, seine vier Begleiter erschossen. Von diesem Tage an und bis zum tödlichen Ende der 44 Tage dauernden Entführung war Hanns-Eberhard Schleyer als Sprecher der Familie Kontaktperson der Bundesregierung, Mittelsmann zu den Entführern und erster Vertreter der Interessen seines handlungsunfähigen Vaters. Er beauftragte meinen Partner Dr. Mailänder und mich, beim BVerfG eine Einstweilige Anordnung zu beantragen. Mit dieser Anordnung sollte die Bundesregierung verpflichtet werden, 11 RAF-Angehörige, darunter Baader und Ensslin, aus der Haft zu entlassen und damit die Bedingung der Entführer für die Freilassung Schleyers zu erfüllen. Mailänder und ich haben den Antrag am 15. Oktober 1977 beim BVerfG eingereicht. Noch in derselben Nachtwurde vor dem Ersten Senat des Gerichts mündlich verhandelt. Am frühen Morgen des folgenden Tages, um 05:45 Uhr, verkündete das Gericht seine Entscheidung. Es wies unseren Antrag auf Erlass einer die Bundesregierung verpflichtende Anordnung ab.


Rechtverblüffend: Wie verlief die Beschwerde? Wie haben Sie den Tag, an dem das Urteil verkündet wurde, in Erinnerung?


Dr. Klaus-Albrecht Gerstenmaier: Wir Anwälte haben schon in den Tagen nach Schleyers Entführung damit begonnen, den Eilantrag an das BVerfG vorzubereiten. Die Antragsschrift wurde über die Wochen dauernde Entführung immer wieder aktualisiert und den Entwicklungen angepasst. Der Eilantrag war ein letztes, in verzweifelter Lage eingesetztes Instrument, um die Bundesregierung zur Rettung des Entführungsopfers zu veranlassen. Solange die Lage sich täglich veränderte und Hoffnung bestand, Schleyer würde gefunden oder freigelassen werden, haben wir die Einreichung des Eilantrages immer wieder zurückgestellt bis hin zum Samstag, dem 15. Oktober 1977. An diesem Tage war die Übergabe von 15 Millionen Dollar Lösegeld durch Hanns-Eberhard Schleyer an einen Vertreter der Entführer geplant. Zwei Tage zuvor war die Luft-hansa-Maschine „Landshut“ mit 91 Menschen an Bord durch Kollaborateure der RAF entführt worden. Ziel auch dieser Entführung war es, die gefangen gehaltenen führenden RAF-Mitglieder freizupressen. Die Übergabe des Lösegeldes scheiterte um die Mittagszeit am Samstag. Am Sonntagmorgen um 08:00 Uhr lief das Ultimatum der Entführer zur Freilassung der RAF-Gefangenen ab. Es drohte unmittelbar die Ermordung Schleyers und die Erschießung sämtlicher Passagiere und der Besatzung der „Landshut“. In dieser Situation haben wir am Samstag um die Mittagszeit den Eilantrag eingereicht; es war ein letzter Versuch der Familie Schleyer, das Leben des Entführten zu retten oder mindestens weitere Zeit zu gewinnen. Die Mitglieder des Senats wurden aus verschiedenen Ecken der Bundesrepublik teilweise per Hubschrauber zusammengeholt. Ab etwa 22:00 Uhr tagte das Gericht unter Vorsitz seines Präsidenten nicht öffentlich und hinter geschlossenen Vorhängen. Mailänder und ich plädierten für den Antragsteller Schleyer, der damalige Bundesjustizminister Vogel für die Bundesregierung. Es war eine todernste, von schwersten Befürchtungen und winzigen Hoffnungen geprägte Nacht. Gegen Mitternacht zog sich der Senat zu Beratungen zurück. Sie dauerten beinahe sechs Stunden, während der wir Anwälte versuchten, auf einigen zusammengeschobenen Stühlen etwas Schlaf zu finden. Mir gelang das nicht. Um 05:45 Uhr am Sonntag Morgen, dem 16. Oktober 1977, trat der Senat wieder zusammen und verkündete sein Urteil: Der Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung auf Freilassung der RAF-Häftlinge wird abgelehnt.


Rechtverblüffend: Mit welchem Ausgang der Beschwerde hatten Sie gerechnet? Waren Sie vorsichtig optimistisch?


Dr. Klaus-Albrecht Gerstenmaier: Ich war skeptisch. Das Bundesverfassungsgericht hat sich immer an den Grundsatz der Judicial Self-Restraint, also an den Verzicht „Politik zu treiben“ gehalten und es vermieden, in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen. Es war deswegen zu erwarten, dass das Gericht es auch im Falle Schleyer den staatlichen Organen überlassen würde, unter verschiedenen gegebenen Möglichkeiten „in eigener Verantwortung“ zu wählen. Dennoch musste der Antrag gestellt werden, auch wenn es von vornherein zweifelhaft war, ob das Gericht ein bestimmtes Handeln der Exekutive anordnen würde. Wichtig war vielmehr zweierlei: Aus der Sicht der Familie Schleyer alles, wirklich alles zu tun, um den Vater zu retten. Zum anderen der Bundesregierung auch durch höchste gerichtliche Entscheidung nochmals vorzugeben, dass der Schutz des Lebens eine umfassende, alle staatlichen Organe bindende Verpflichtung begründet, hinter der jegliche politische oder polizeitaktische Überlegung zurückzustehen hat. Optimistisch was den Erlass einer Einstweiligen Anordnung angeht war ich also nicht. Aber die Hoffnung, den staatlichen Organen werde nochmals und gerade in der aktuellen Situation dieser dramatischen Tage geboten, sich schützend und fördernd vor das Leben des Entführten zu stellen, diese Hoffnung hat sich erfüllt.


Rechtverblüffend: Die Antragsbegründung berief sich auf ein anderes Urteil des Bundes-verfassungsgerichts, nämlich das Abtreibungsurteil von 1975. Worum ging es da und wo liegen die Parallelen?


Dr. Klaus-Albrecht Gerstenmaier: Gegenstand des Abtreibungsurteils des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1975 war die Frage, ob die sogenannte Fristenregelung, wonach der Schwangerschaftsabbruch in den ersten 12 Wochen seit der Empfängnis unter bestimmten Voraussetzungen straffrei bleibt, mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Das hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 39,1) für den Fall abgelehnt, dass es keine Gründe gebe, die eine Fortsetzung der Schwangerschaft wegen der Gefahr für Leib und Leben der Mutter unzumutbar machten. Zur Begründung hat das Gericht damals ausgeführt, die Schutzpflicht des Staates für das Leben sei umfassend. Diese Schutzverpflichtung müsse umso ernster genommen werden, je höher der Rang des infragestehenden Rechtsgutes innerhalb der Werteordnung des Grundgesetzes anzusetzen sei. Das menschliche Leben stelle innerhalb der grund-gesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar; es sei die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte. Mit diesen Wertungen haben auch wir unseren Antrag begründet, die RAF-Häftlingen seien im Austausch gegen den Entführten freizulassen. Die Parallelen liegen auf der Hand.


Rechtverblüffend: Wie haben Sie die Stimmung in der Kanzlei in Erinnerung in der Zeit der Entführung und nach dem Urteil? Wie stark war Ihr Partner Hanns-Eberhard Schleyer, ältester Sohn des Entführten, emotional betroffen?


Dr. Klaus-Albrecht Gerstenmaier: Die Kanzlei war in den 44 Tagen der Entführung und darüber hinaus in einem Ausnahmezustand. Das gilt insbesondere für unseren Partner Schleyer, der unter strengem Personenschutz stand und sich nur in Begleitung von Polizeibeamten bewegen konnte. Oft war er unterwegs, tagelang haben wir ihn nicht gesehen, weil er sich mit Regierungsvertretern, Ermittlungsbehörden und letztlich natürlich auch mit seiner Familie abzustimmen hatte. Wir anderen konnten uns der Alltagsarbeit nur beschränkt widmen, stündlich wurden die aktuellen Nachrichten abgehört. Die Presse verlangte Informationen, exklusiv vor allem. Verschiedentlich bekamen wir direkt Post von den Entführern, auch Anrufe von Kontaktpersonen und Mittelsmännern gingen bei uns ein. Das führte dann immer zu eiligen Kontakten mit den Ermittlungsbehörden, Auswertungen, Befragungen, Berichten. Kurz: an normale Anwaltsarbeit war nur sehr sporadisch zu denken.

Rechtverblüffend: Hatten Sie Angst, selbst zum Ziel der Entführer zu werden?


Dr. Klaus-Albrecht Gerstenmaier: Nein, ich hatte nie die Befürchtung, selbst ins Fadenkreuz der Terroristen zu geraten. Wir Anwälte waren aus deren Sicht allenfalls Hilfs- und Mittelspersonen, keine politischen Ziele.


Rcehtverblüffend: Es wird oft davon gesprochen, das Bundesverfassungsgericht habe Schleyer zum Tode verurteilt, indem es Ihren Antrag abgewiesen habe. Sahen Sie das damals auch so oder versuchten Sie, optimistisch zu bleiben?


Dr. Klaus-Albrecht Gerstenmaier: Wir hatten seinerzeit einen Presseartikel geschrieben, der im Entwurf den Titel trug „Todesstrafe für die Geisel?“. Wir haben diesen Titel geändert. Die Entscheidung über das Leben Schleyers lag nicht beim Gericht, sie war den staatlichen Behörden auferlegt, die, das ist zuzugeben, auch der Gesamtheit der Bürger zum Schutze vor terroristischen Aktivitäten verpflichtet war. Natürlich haben wir gehofft, auch nach der nächtlichen Gerichtsentscheidung. Wir haben gehofft auf Ermittlungserfolge, auf ein Einlenken der Regierung, auf Zeitgewinn. Wir haben gehofft bis zuletzt. Dann kam die Erstürmung der "Landshut" und die Befreiung der Geiseln dort, nur Stunden später der Selbstmord der RAF-Häftlinge Baader, Ensslin und Raspe und am Nachmittag desselben Tages, des 18. Oktober 1977, die Mitteilung von Hanns-Martin Schleyers Tod.


Rechtverblüffend: Warum wurde der Fall verloren? Und wie wegweisend war die Entscheidung für zukünftige Verfahren?


Dr. Klaus-Albrecht Gerstenmaier: Der Fall wurde nicht „verloren“. Unser Antrag wurde zurückgewiesen; das Bundesverfassungsgericht hat sich richterlicher Selbstbeschränkung verpflichtet gesehen. Politische Entscheidungen zu treffen war ihm nicht zugewiesen. Natürlich ist die Grenzziehung zwischen juristischer und politischer Sphäre schwierig, das zeigt fast jede verfassungsgerichtliche Entscheidung. Aber solange der Exekutive verfassungsgemäße Alternativen des Handelns zur Verfügung stehen, ist es dem Gericht verwehrt, eine dieser Alternativen bindend und unter Ausschluss der übrigen anzuordnen. Wegweisend war die Entscheidung nicht für „zukünftige Verfahren“. Vergleichbare Verfahren gab es weder zuvor noch je danach. Wegweisend aber war das in einer Situation äußerster Dramatik wiederum festgeschriebene Prinzip richterlicher Selbstbeschränkung und der Achtung der Sphäre rechtgemäßen exekutiven Handelns. Diese Ausformung der Gewaltenteilung prägt die Rechtsprechung des Gerichts bis zum heutigen Tage.


Rechtverblüffend: Zwei Jahre zuvor, 1975, war das BVerfG und damit der deutsche Staat auf die Forderung von Entführern eingegangen und hatte entschieden, fünf inhaftierte Terroristen gegen den CDU-Politiker Peter Lorenz auszutauschen. Warum ist das damals anders entschieden worden? Hatten Sie das Gefühl, Lorenz wurde aufgrund seiner Partei-färbung eine andere Behandlung zuteil? War der Fall also schon vor der Gerichtsverhandlung verloren?


Dr. Klaus-Albrecht Gerstenmaier: Der Frage liegt ein doppeltes Missverständnis zugrunde: Die Freilassung der von der „Bewegung 2. Juni“ im Austausch gegen Lorenzfreigepressten Geiseln war nicht die Folge einer gerichtlichen, gar verfassungsgerichtlichen Entscheidung. Vielmehr beruhte die Freilassung auf der politischen Entscheidung des Berliner Senats unter dem Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz (SPD), der wie auch dann wir im Antragsverfahren der Überzeugung war, der Schutz des Lebens des Entführten gehe allem anderen vor. Es gab also keine Divergenz-Entscheidung eines oder verschiedener Gerichte. Auch die Parteizugehörigkeit Lorenz‘ spielte keine Rolle. Denn auch Hanns-Martin Schleyer war der CDU zuzurechnen, ein Umstand allerdings, der nach meiner Einschätzung während der Entführung nie auch nur die geringste Rolle spielte, weder für den Kanzler Helmut Schmidt (SPD) noch für den Oppositionsführer Helmut Kohl (CDU).


Rechtverblüffend: Sehen Sie Parallelen zwischen späteren Geiselnahmen und deren Handhabung?


Dr. Klaus-Albrecht Gerstenmaier: Hart zu bleiben, die Maxime, die der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt während der Schleyer-Entführung formulierte, gilt seitdem für jeden Entführungsfall, mehr oder weniger. Eine Freilassung von Häftlingen ist jedenfalls nie wieder erwogen worden; ob hin und wie-der Lösegeld gezahlt wird und die Kompromisslosigkeit der Maxime auf diese Weise relativiert wird, ist offiziell jedenfalls nicht bekanntgeworden.


Rechtverblüffend: Mit Terroristen und Geiselnehmern zu verhandeln, ist das wirklich derrichtige Umgang?


Dr. Klaus-Albrecht Gerstenmaier:Natürlich ist das der richtige Umgang, wenn die Lage das gebietet. So wird Zeit gewonnen und werden Lösungsmöglichkeiten geschaffen, sei es durch Fahndungserfolge, sei es durch andere Rettungsaktionen. Aber selbstverständlich hat jedes Verhandeln Grenzen, zeitliche und inhaltliche.


Rechtverblüffend: Wie hat sich der Fall auf Ihre Karriere ausgewirkt?


Dr. Klaus-Albrecht Gerstenmaier: Gar nicht. Ich wüsste nicht, dass mir als Folge dieses Verfahrens auch nur ein Mandat mehr übertragen wurde. Ausgewirkt hat es sich auf meine Beziehung zu Hanns-Eberhard Schleyer, mit dem ich noch heute freundschaftlich verbunden bin. Dieses Verfahren in seiner dramatischen Einzigartigkeit ist in meiner Erinnerung noch heute, nach über 40 Jahren lebendig. Das wird sich nicht ändern; solche Auswirkungen bleiben.

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