Unser Weihnachten? - oder: Was der Tannenbaum mit Säkularisierung zu tun hat
Ach, wie schön ist Weihnachten! Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. Holt das Lametta raus und die Christbaumkugeln! Wir wollen Schokolade und Lebkuchen verschlingen und uns glühwein-infusiert auf dem Weihnachtsmarkt die Finger abfrieren, bevor wir auf Etsy noch schnell die letzten überflüssigen Geschenke bestellen! Dann weiter zur Familie aufs Land, Driving home for Christmas, wo wir uns schließlich und endlich besinnen, wenn der Braten verspeist und die Party vorbei ist.
Da die bedächtige Zeit um Weihnachten verdächtig hektisch ist, nehmen wir, die Rechtverblüffend Redaktion, uns die Zeit, genauer hinzusehen: Zu jedem Advent hinterfragen wir in einem Artikel Weihnachten auf seine guten und schlechten Seiten hin - sodass Euch ein Licht aufgehen möge! Zum 1. Advent geht es um Religionspluralismus, Säkularisierung und staatliche Neutralität.
von Olivia Müller-Elmau und Marie Müller-Elmau

Deutschland versteht sich als religiös-pluralistischer und säkularer Staat. Nicht nur rechtlich wird die Religionsfreiheit nach Art. 4 des Grundgesetzes für alle Religionen und Weltanschauungen gewährleistet, sondern auch im Alltag wird religiöse Vielfalt gelebt. Und das zunehmend nicht mehr nur im Verborgenen: Wir wollen eine Gesellschaft, in der dies akzeptiert und möglich ist. Und doch ist Weihnachten in Deutschland weiterhin dasjenige religiöse Ereignis, das am breitesten, buntesten und selbstverständlichsten gefeiert wird. Dabei gehören nicht einmal alle, die Weihnachten feiern, der christlichen Kirche an. Während etwa 54% der Deutschen Mitglieder in der Kirche sind, feierten 2017 laut einer Umfrage 90% der Deutschen, 2020 immerhin 73% der Befragten Weihnachten. Was soll also diese Überhöhung von Weihnachten? Ist sie im 21. Jahrhundert unangemessen? Oder hat sie in einem historisch christlich geprägten Staat doch ihre Berechtigung?
Das Ideal der staatlichen Neutralität gebietet es, dass der Staat sich weder eine Religion noch religiöse Symbole oder Inhalte zu eigen macht. Er steht Religionen also in der Theorie nicht nur gleichberechtigt und neutral gegenüber, sondern löst sich gänzlich von religiösen Vorstellungen. Ein Aspekt dieser Problematik liegt in der Frage, wie der Staat sich im Hinblick auf seine Neutralität zu verhalten hat, wenn er selbst als Staat tätig wird. Um diese Frage drehen sich zum Beispiel die Diskussionen über das Kopftuchverbot vor Gericht oder in der Schule oder den Kreuzerlass von Markus Söder. Der andere Aspekt betrifft all diejenigen Räume, in denen der Staat nicht selbst agiert. Das Problem dabei ist allerdings, dass manchmal nicht ganz eindeutig ist, wo die Grenzen dieser Räume tatsächlich verlaufen. Ist Weihnachten beispielsweise eine bloße Privatsache? Oder muss man das Feiern von Weihnachten angesichts seiner Präsenz in Deutschland als ein staatsnahes religiöses Ereignis ansehen und damit problematisieren?
Als christliches und damit religiöses Fest steht erst einmal fest, dass Weihnachten selbstverständlich gefeiert werden darf - ganz im Sinne der Religionsfreiheit. Allerdings sollte der gleiche Raum auch für andere religiöse Feste gegeben werden. Es wird da problematisch, wo etwa das Begehen des Ramadans bzw. Eids in Geflüchtetenunterkünften von der Pegida als großes Problem angesehen wird, das Feiern von Weihnachten am selben Ort hingegen als nicht der Rede wert. Es wird da problematisch, wo Weihnachten als Ausdruck von einer christlichen Leitkultur gepriesen, andere religiöse Feste und Traditionen als nicht “deutsch” herabgewertet werden und Praktizierende mit Diskriminierungen zu rechnen haben. Dies ist in unserer Gesellschaft - leider - keine Ausnahme. Anschläge der letzten Jahre auf Moscheen oder Synagogen zeigen dies eindrücklich. Wie verhält sich der Staat dazu? Hat er einen Anteil an der ungleichen Wertung? Wenngleich Gewalt und Diskriminierung aufgrund von religiöser Zugehörigkeit in Deutschland thematisiert und angeklagt werden, wertet der Staat im kleinen Weihnachten höher als andere religiöse Feste. Zum einen sind die Weihnachtsfeiertage, wie andere christliche Festtage, gesetzlich festgeschrieben, während die religiösen Feiertage anderer Religionen nicht beachtet werden. Zum anderen zeigte sich 2020 in der Diskussion um Lockerungen der Coronaregelungen zu Weihnachten, welche gesellschaftliche Bedeutung dem Fest von der Politik sogar während der Ausnahmesituation der Pandemie zugeschrieben wurde. Trotz hohem Infektionsgeschehen wurde das Weihnachtsfest ermöglicht, wohlgemerkt in der Kleinfamilie, was von der queeren Community beispielsweise aus anderen Gründen kritisiert wurde.
Mit steigenden Infektionszahlen dieses Jahr ist nicht auszuschließen, dass sich dieses Szenario wiederholt. Natürlich hatte diese staatliche Entscheidung nicht nur religiöse Motive. Beim Feiern von Weihnachten steht die Religion für den Großteil der Menschen nicht im Vordergrund. Vielen geht es an Weihnachten heute darum, ihre Familien zusammenzubringen und sich zu zeigen, dass man dankbar füreinander ist – wie gut auch immer das in der Praxis gelingen mag. Vermutlich stand also der soziale Aspekt für die Politik im Vordergrund. Nichtsdestoweniger wurde dieser Aspekt für Deutsche und in Deutschland lebende Menschen anderer Konfession nicht im gleichen Maße gewährleistet und das klare Zeichen gesendet: Weihnachten ist ein Fest, das „zu Deutschland gehört“. Solche politischen Entscheidungen stellen die Neutralität des Staates in Belangen der Religion durchaus in Frage und sind kritikwürdig.