Verfassung, Islam und Feminismus - von Iqbal, Jinnah und Richterin Ayesha Malik
von Paul Dießelberg

© Konstantina Stefou
In der westlichen Politik und öffentlichen Debatte gibt es etliche Themen, die immer wieder hitzige Diskussionen hervorrufen und vermeintliche Verteidiger*innen unserer Werteordnungen auf die Barrikaden bringen. Am prominentesten sind dabei Vorstöße, die den Feminismus oder den Islam betreffen, zwei Bereiche – Kritiker*innen würden sagen „radikale Ideologien“ – die auf den ersten Blick zunächst wenig gemein haben, ja vermeintlich sogar im Konflikt zueinander stehen. Umso hitziger werden entsprechende Debatten jedoch immer dann, wenn Begriffe wie diese in den Zusammenhang mit unserer „eigentlichen“ Werteordnung – dem Grundgesetz als Verfassung – in Verbindung gebracht werden, Islam und Feminismus also zum negativ oder auch positiv gepushten Politikum werden. So entstand zum Beispiel im Nachgang der Verkündung des aktuellen Koalitionsvertrags eine enorme Welle an verwirrter Kritik, als man darin plötzlich von einer „feministischen Außenpolitik“ las. Oder als vor einigen Wochen der Hashtag #Scharia auf Twitter trendete, da im Zuge der Wahl des neuen Co-Vorsitzenden der Bündnis 90/Die Grünen – Omid Nouripour – ein Video aus dem Jahre 2018 geteilt wurde, in dem dieser von der Vereinbarkeit des islamischen Rechts mit dem Grundgesetz sprach. Politiker*innen aus links, Mitte und rechts teilten Tweets, die im Zusammenhang mit dieser Aussage vom potenziellen Ende von Frauenrechten in unserer westlichen Weltordnung sprachen.
Alles gängige Narrative, die dem huntingtonian Narrativ des Kampfes zwischen guten und bösen Weltkulturen folgen, bei dem insbesondere die vermeintlich unsere – der liberale, konstante und offene Westen – langsam zu verlieren scheint. Alles aber auch Werte, aktivistische Bewegungen und intellektuelle Gedanken- und Rechtsströme, die in manchen anderen Teilen der Welt durchaus zu Erfolgsgeschichten werden. Gerade die Verbindung zwischen Islam, Feminismus und Verfassung ist nämlich eine solche, die in islamisch-geprägten Gesellschaften seit vielen Jahrzehnten, ja gar Jahrhunderten eine Geschichte hat, die sich so manche westlichen Entscheidungsträger*innen durchaus mal ansehen sollten. Das Spektrum hierbei ist vielfältig und reicht von der Theorie und Praxis des islamischen Feminismus über post-habermassche Theorien des Verfassungspatriotismus für marginalisierte Gruppen in postkolonialen Staaten bis hin zu feministischen Theorien des Scharia-Rechts, welches in seiner unpolitisierten Reinform schon seit langem als unbeachteter Vorreiter so mancher moderner und liberaler Rechtsordnungen gilt.
Eine aktuelle Erfolgsgeschichte, die diese Verbindung zwischen Islam, Verfassung und Feminismus kaum besser repräsentieren könnte, ist Ayesha Malik.
In einem Ereignis, das als historisch, empowering und umstritten bezeichnet wurde, ist sie die erste Frau, die in der 75-jährigen Geschichte Pakistans als Richterin am Obersten Gerichtshof gewählt und ernannt wurde. Die Ernennung vom 24. Januar wurde international als ein wichtiger Schritt gesehen, um gegen die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im pakistanischen Rechtswesen anzukämpfen und anzuerkennen, dass die Beseitigung von Hindernissen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in hohen Ämtern, insbesondere im Rechtssystem, von entscheidender Bedeutung ist, wenn Pakistan die weit verbreiteten Missstände, von denen etliche Frauen im Land betroffen sind, auflösen und echte Reformen durchführen will.
Die Islamische Republik Pakistan hatte schon immer eine komplizierte Geschichte zu ihrem eigenen Rechtssystem. Während die Verfassung und diverse menschenrechtliche Einzelgesetze, wie der sogenannte Transgender Persons Act, überraschend liberal und diversitätsachtend wirken, hält das Land an antiquierten, fast menschenverachtenden Strafgesetzen fest. Auch wenn die internationale Gemeinschaft dabei oftmals das geltende Scharia-Recht, welches als eine Art Grund- und Rückfallrechtsordnung im rechtlichen Abwägungsfall gilt, kritisiert, liegt das eigentliche Problem vielmehr in den Strukturen der patriarchalischen (Rechts-)Gesellschaft, die Rechtsnormen und Gleichberechtigung zu einem von radikaler Religion und Militär geprägten Politikum hat entwickeln lassen. Obwohl das Land nach der Partition 1947 gute Voraussetzungen hatte, eine islamische Beispielsrepublik im Sinne Muhammad Iqbals und Muhammad Ali Jinnahs zu werden, in der fortschrittliches islamisches Recht mit einer ethnisch und sogar auch religiös diversen Gesellschaft in Einklang gebracht werden sollte, die Ideale von Verfassung, Islam und Feminismus also durchaus hätten gelten können, sah die politische Realität schnell anders aus. Das zeigte sich nicht nur mit der Ermordung der ersten Premierministerin Pakistans – Benazir Bhutto – sondern auch ganz aktuell in der pakistanischen Gerichtsbarkeit, die die De-facto-Kontrolle über das mächtige Militär hat und deren Einfluss als vergleichbar mit dem des amerikanischen Supreme Courts anzusehen ist.
Denn heute ist Pakistan das einzige Land in Südasien, das noch nie eine weibliche Richterin am Obersten Gerichtshof hatte. Human Rights Watch Untersuchungen haben ergeben, dass nur etwa vier Prozent der Richter*innen an höheren pakistanischen Gerichten Frauen sind. Von den 3005 pakistanischen Richter*innen an allen ordentlichen Gerichten des Landes sind nur 519 – oder 17 Prozent – Frauen. Während einige Frauen Bezirksgerichte leiten, wurde noch keine in den nationalen Obersten Gerichtshof berufen. Und obwohl Pakistan international bekannte Anwältinnen wie Hina Jilani und die verstorbene Asma Jahangir hervorgebracht hat, gab es in der pakistanischen Anwaltskammer noch nie ein einziges weibliches Mitglied.
Pakistan braucht dringend Anwält*innen und Richter*innen, die das feindliche und oft gewaltsame Umfeld verstehen, dem viele pakistanische Frauen sowohl zu Hause als auch in der Gesellschaft insgesamt ausgesetzt sind. Gewalt gegen Frauen und Mädchen – einschließlich Vergewaltigung, so genannter Ehrenmorde, Säureangriffe, häusliche Gewalt und Zwangsverheiratung – ist weit verbreitet, während viele Frauen auch in der Arbeitswelt diskriminiert werden und keinen gleichen Zugang zu Bildung und Gesundheitsfürsorge genießen. Die Unterrepräsentation von Frauen in der Anwaltschaft lässt sich somit durchaus auf schädliche gesellschaftliche Anschauungen, Belästigungen am Arbeitsplatz und strukturelle Hindernisse wie ein undurchsichtiges Ernennungsverfahren für Richter*innen zurückführen.
Und das alles, obwohl das Recht, um das es hier im Kern ja geht, sich ganz anders liest: Die pakistanische Verfassung sieht im Einklang mit dem Völkerrecht vor, dass alle Bürger*innen vor dem Gesetz gleich sind, und verbietet explizit die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Die Konvention der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung gegen Frauen (CEDAW), die auch Pakistan ratifiziert hat, verpflichtet die Regierungen, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die Diskriminierung von Frauen im politischen und öffentlichen Leben des Landes zu beseitigen und Frauen gleichberechtigt mit Männern das Recht zu gewährleisten, alle öffentlichen Funktionen auf allen Ebenen der Regierung auszuüben.
Zwischen die Gründungspfeiler von Iqbals und Jinnahs liberalen Idee Pakistans tritt nun eine neue Stütze der Hoffnung hinzu: Ayesha Malik.
Vor ihrer Berufung an den nationalen Obersten Gerichtshof war Malik, die in Karachi, Lahore und Harvard Economics und Law studierte und dreifache Mutter ist, ein Jahrzehnt lang Richterin am Obersten Gerichtshof in Lahore in der pakistanischen Region Punjab. Sie gehörte dem Vorstand der Punjab Judicial Academy an und war Vorsitzende eines föderalen Überprüfungsausschusses, der sich mit Fragen im Zusammenhang mit Frauen im Justizwesen befasste. Bevor sie in den Justizdienst eintrat, war sie in zwei Kanzleien als Anwältin für Gesellschaftsrecht und Rechtsstreitigkeiten tätig und lehrte Bank- und Handelsrecht an der University of the Punjab und am College of Accounting & Management Sciences in Karachi.
Als Richterin am Obersten Gerichtshof in Lahore entschied Malik über die Durchsetzung internationaler Schiedsverfahren in Pakistan und gehörte der Green Bench an, die sich mit Fällen im Zusammenhang mit der Umwelt befasst. Letztes Jahr, bevor sie an den nationalen Obersten Gerichtshof berufen wurde, fällte sie ein bahnbrechendes Urteil, in dem sie die Anwendung von Jungfräulichkeitstests in Vergewaltigungsfällen verbot und schrieb im fast deutschen verfassungsrechtlichen Stil, dass diese Praxis „die Würde des weiblichen Opfers verletzt“ und eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellt. Infolge von Maliks Urteil erließen die Regierungen von Punjab und Sindh Anordnungen, um die Verwendung von Jungfräulichkeitstests in Fällen sexueller Übergriffe, bei denen Frauen die Opfer sind, zu unterbinden, und der Oberste Gerichtshof Pakistans folgte diesem Beispiel in einem ähnlichen Fall, der für alle regionalen Obersten Gerichte Pakistans nun als Präzedenzfall gilt.
Die Entscheidung des Justizausschusses, Ayesha Malik in den Obersten Gerichtshof zu berufen, in dem sie neben 16 Männern Recht sprechen wird, ist zwar historisch, hat aber eine große Kontroverse ausgelöst. Das neunköpfige Gremium, das ihre Ernennung bestätigen sollte, lehnte ihre Berufung an das oberste Gericht im vergangenen Jahr ab. Die jüngste Abstimmung fiel knapp aus, fünf Ausschussmitglieder stimmten für sie, vier dagegen. Viele Anwält*innen und sogar Richter*innen erklärten, Maliks Auswahl sei unter Verstoß gegen die Dienstalterslisten erfolgt, da sie nicht zu den drei dienstältesten Richtern der unteren Instanz gehörte, von der aus sie berufen wurde. Einige Anwaltsvereinigungen drohten mit Streiks und einem Boykott der Gerichtsverhandlungen, da ihre Forderungen nach festen Kriterien für die Ernennung von Richter*innen am Obersten Gerichtshof ignoriert worden seien. Öffentliche Demonstrationen brachen aus, es wurden Drohungen gegen Malik ausgesprochen und etliche Politiker:innen sprachen öffentlich ihr als Frau jegliche juristische Kompetenz ab.
Auch wenn Richterin Malik die gläserne Decke in der Justiz durchbrochen haben mag, gibt es zahlreiche pakistanische Anwältinnen, die sich seit Jahrzehnten in untergeordneten Positionen in dem von Männern dominierten Rechtsberuf abmühen, in dem selbst mittellose Prozessparteien männliche Anwälte bevorzugen, insbesondere in Strafsachen. Zum Beispiel werden junge Frauen routinemäßig zu den Gerichten geschickt, um Vertagungen zu erwirken, weil männliche Richter ihnen gegenüber vielleicht nachgiebiger sein könnten, während ihre männlichen Kollegen geschickt werden, um starke Argumente vorzubringen und ernster genommen zu werden.
In einem britischen Interview betonte Malik, dass Frauen die Aufgabe haben, ihre geschlechtsspezifische Perspektive in jede alltägliche Erzählung einzubringen. In ähnlicher Weise hätten Richterinnen die Pflicht, ihre Geschlechterperspektive in den Vordergrund zu rücken und eine integrativere Denkweise vor Gericht einzuführen, weil meist nur Richterinnen möglicherweise in der Lage seien, Stereotype, Vorurteile und Diskriminierung sowie die Ursachen von Belästigung wirklich zu erkennen. Der Weltfrauentag sei laut ihr dann ein Tag, um die Geschichten von Frauen zu zelebrieren, zu hören und zu würdigen, die sich für die Gleichstellung einsetzen, um uns alle daran zu erinnern, dass wirklich alles möglich ist.
Damit steht Ayesha Malik näher am pakistanischen Grundgedanken Iqbals und Jinnahs als es dem Großteil der politischen, judikativen, militärischen und religiösen Elite recht ist. Die Verbindung von Verfassung, Islam und Feminismus funktioniert also doch; und das nicht nur – wie schon seit Urzeiten – in der Theorie, sondern mit Persönlichkeiten wie Justice Malik auch ganz konkret. Das sollte Pakistan, insbesondere jedoch uns im vermeintlichen „Westen“ eine Lehre sein.
Am 8. März war Internationaler Frauentag. Anlässlich dessen veröffentlichen wir eine Woche lang Artikel zum Thema Gleichberechtigung, Frauen und Frauenrechte.