Welcome to Lebanon!
4. August, 2020 – 18:08 Uhr. Im Hafen der libanesischen Hauptstadt Beirut kommt es zu einer gewaltigen Explosion mit katastrophalen Folgen. Ein Tag, an dem die ganze Welt auf das kleine Land am Mittelmeer schaut. Doch mit Abstand zur Katastrophe wächst das Desinteresse der Weltöffentlichkeit. Dabei sind die fürchterlichen Folgen bis heute mehr als ersichtlich – und Symptome eines maroden Systems. Unsere Autorin war vor Ort.
von Anne Wendenburg

© Antonia Hinterdobler
Mit verschmitzt leuchtenden Augen werde ich begrüßt. Ahla w sahla – Willkommen. Ein geflügeltes Wort bei meiner Ankunft im Libanon. Die Gastfreundschaft? Immens. Fast alle fragen mich, wo ich herkomme. Meine Antwort: Ana almaniyeh – Ich bin Deutsche. Sogleich werden Geschichten ausgepackt: „Damals in den 60er Jahren war ich in Stuttgart mit meiner Frau. Wir haben einen Mercedes gekauft und sind dann in den Libanon zurückgefahren. Ein schönes Auto, Chromfelgen, Radio. Ja, das können die Deutschen. Nein, jetzt ist es kaputt. Wir haben kein Auto mehr, das Benzin ist zu teuer; wir können uns den Luxus nicht mehr leisten. Früher hat man noch 2.000 Lira für einen Liter Benzin gezahlt. Jetzt sind es 30.000 Lira. Wenn es denn überhaupt noch welches gibt. Wir haben kaum noch genug Geld, um uns Essen leisten zu können. Warum das Brot so teuer ist? Putin? Nein. Schuld an der Situation sind die Politiker hier. Zu viel Macht bei den falschen Leuten. Korruption. Die Elite wirtschaftet sich in ihre eigene Tasche. Nein, ich bleibe hier. Ich bin während des Kriegs nicht gegangen, dann gehe ich auch jetzt nicht. Der Libanon ist mein Zuhause. Die Berge, das Meer, die Menschen, das Essen. Ob es sich bessern wird? Ich wäre schon froh, wenn wir wieder 24 Stunden Strom hätten und der Müll von den Straßen verschwände. Die Wahl? Ach ja, die Wahl. Nein, ich habe nicht gewählt. Mein Pass war abgelaufen, ihn zu erneuern hätte ein Jahr gedauert. Ich konnte mich für die Wahlen nicht registrieren. Aber das hätte eh nichts geändert. Hier ändert sich eh nichts.“
Welcome to Lebanon.
Dabei haben die Libanes*innen während der 2019 Revolution eine genau gegenteilige Einstellung an den Tag gelegt. Hunderttausende Menschen protestierten in den Straßen des Landes. Über Wochen wurde gemeinsam mit Bannern und Worten gegen Sektierertum und Korruption gekämpft – und für einen Machtwechsel. Kelon ya’neh kelon – Alle heißt alle.
Auslöser der Massenproteste war ein Beschluss der Regierung auf die bis dato kostenfreien WhatsApp-Anrufe eine Steuer zu erheben. Ein letzter Tropfen, der die von der anhaltenden Wirtschaftskrise zermürbten Libanes*innen landesweit auf die Straßen brachte. Noch am Ende des gleichen Monats beugt sich Premierminister Saad al-Hariri (Future Movement) schließlich dem Druck der Öffentlichkeit und tritt zurück. Mit ihm sein Ministerkabinett. Im Januar 2020 wird ein neues Kabinett ernannt. Aller Hoffnung zum Trotz ändert sich kaum etwas. Die Demonstrationen halten an. Doch die ausbleibende internationale Unterstützung und der Beginn der Pandemie lassen die Proteste schließlich versiegen. Harte Lockdowns, Sperrstunden, Ausgang nur mit gesonderter Erlaubnis. Auch die Massenbewegung muss sich den Corona-Regeln beugen. Die Situation vieler Libanes*innen verschlimmert sich und das Volk verliert seine kollektive Stimme.
Sodann erreicht die Krise einen weiteren Höhepunkt. Am 4. August 2020 detonieren schätzungsweise gut 2.500 Tonnen Ammoniumnitrat im Beiruter Hafen. Unmittelbar neben der Innenstadt mitten in einem Wohngebiet ereignet sich eine der größten nicht-nuklearen Explosion der Geschichte. Das hochexplosive Düngemittel war dort mehrere Jahre ohne besondere Sicherheitsvorkehrungen zwischengelagert wurden. Noch-Präsident Michel Aoun (Free Patriotic Movement, FPM) wusste von den Mengen an explosivem Material bereits Wochen vor dem tragischen Ereignis, doch entschied sich mangels eigener Zuständigkeit nichts zu unternehmen. Die Misswirtschaft der eigenen Regierung führte so zu 190 Toten, 6.500 Verletzten, 300.000 obdachlosen Menschen und unzähligen zerstörten Gebäuden. Wieder kommt es zu einem Regierungsrücktritt, doch Wiedergutmachung gibt es bis heute nicht, ebenso wenig wie staatliche Aufarbeitung. Opfer erhielten nie eine Entschädigung für ihre Verluste. Die Trümmer wurden von Bewohner*innen und Voluntär*innen beseitigt. Knapp zwei Jahre später sind die Auswirkungen der tragischen Katastrophe der Stadt noch immer anzusehen.
Der Wert der libanesischen Lira ist in den vergangenen drei Jahren von 1.500 Lira pro USD auf 30.000 Lira gefallen. Eine landesweite Krise folgt der nächsten – Benzin, Wasser, Brot, Gesundheitsversorgung. Im Oktober 2021 kommt es zu einem 24-stündigen landesweiten Blackout. Das Betreiben der staatlichen Elektrizitätswerke war wegen mangelndem Kraftstoff unmöglich geworden. Aktuell beschränkt sich die staatliche Stromversorgung auf nur wenige Stunden pro Tag. Aus dem staatlichen Versagen resultiert eine große Abhängigkeit von privaten Generatorenbesitzern und deren Preispolitik. Überall in den Straßen häuft sich Müll, ein funktionierendes öffentliches Entsorgungssystem gibt es nicht. Aufgrund der anhaltenden Wirtschaftskriese leben mittlerweile knapp 80 Prozent der Libanesen unterhalb der Armutsgrenze. Auch das war Grund für das Ende der Revolutionsbewegung.
Mitte Mai wurde das libanesische Parlament neu gewählt. Obwohl es die ersten Wahlen seit der 2019 Revolution waren, haben nur gut 49 Prozent der Libanesen ihre Stimme abgegeben. Ex-Premierminister Hariri hatte zum Boykott aufgerufen. Andere Parteien kauften Wähler*innenstimmen mit Geld. Seither hat die vom Iran unterstützte schiitische Partei Hisbollah ihre Regierungsmehrheit verloren. Nicht weil sie weniger Sitze oder Stimmern erlangt hätte als bei der letzten Parlamentswahl in 2018, sondern weil ihr langjähriger Partner, Free Patriotic Movement (FPM), immense Stimmeinbußen hinnehmen musste. FPM wurde als stärkste christlich-maronitische Partei von den Lebanese Forces (LF) ausgestochen. Beide Parteien finden ihren Ursprung in Milizen des Bürgerkriegs, FPM nun Freunde mit der Hisbollah, LF als ihr rechtsextremer Gegenspieler. Immerhin, unabhängige Kandidat*innen haben so viele Sitze wie noch nie. Von sechs auf dreizehn. Genug, um künftig den Verfassungsrat anrufen zu können, um ein neues Gesetz auf seine Vereinbarkeit mit der Verfassung hin überprüfen zu lassen. Ein Instrument, das in der letzten Legislaturperiode nie aus der Mitte des Parlaments heraus in Anspruch genommen wurde, denn die Unterschrift von insgesamt zehn Abgeordneten innerhalb von 15 Tagen nach in Kraft treten eines neuen Gesetzes ist erforderlich. Die anderweitigen Initiatoren (Präsident, Premierminister, Parlamentssprecher), gehören zu den wenigen Profiteuren des kaputten Systems. Beschlossene Gesetze spielen ihnen in der Regel in die Karten, an deren Ungültigkeit ist man nicht interessiert.
Ob dieses Korrektiv künftig zum Einsatz kommen wird, bleibt abzuwarten. Erste Hürde wird es zunächst sein, eine Regierung zu bilden und sich nicht gegenseitig bis zur Handlungsunfähigkeit hin zu blockieren.
Im Gegensatz zu den etablierten Parteien, grenzen sich unabhängige Kandidat*innen und junge Parteien in der Regel von einer Identifikation über Konfession ab. Denn anders als in anderen Demokratien wird im Libanon Konfessionalismus bzw. Sektierertum betrieben. Sprich die Hälfte der 128 Sitze im Parlament ist Muslim*innen vorbehalten, die andere Hälfte steht Christ*innen zu. Das Paritätssystem beruht auf einer mündlichen Absprache aus dem Jahr 1943, bekannt als der National Pact. Im Namen der Nation einigten sich damals zwei Parlamentsabgeordnete darauf, dass künftig die Präsidentschaft des Libanon stets einem maronitischen Christen zusteht, der Premierminister Sunnit und der Parlamentssprecher Schiit ist. Ferner sind die Sitze im Parlament in einer festen Ratio insgesamt 18 verschiedenen offiziell anerkannten Sekten zugeordnet. Das System bestand dem Grunde nach bereits während des französischen Protektorats im Libanon (1926 bis 1943), ist aber nie ausdrücklicher Bestandteil der libanesischen Verfassung geworden. Es sichert die Co-Existenz aller Religionsgemeinschaften und gilt so als Garant für Frieden und Repräsentation aller.
Nichtsdestotrotz kam es Ende des 20. Jahrhunderts (1975 bis 1990) zu einem blutigen Bürgerkrieg im Libanon. Krieg herrschte zwischen verschiedenen Interessensgruppen, unterschiedliche Konfessionen schlugen tiefe Gräben zwischen die unterschiedlichen Lager. Beirut fragmentierte sich in muslimische und christliche Bezirke. Nach 15 Jahre langen Kämpfen beendet schließlich das Taif Abkommen den Krieg. Juristisch gesehen war Kern des Friedensvertrags unter anderem das Sektierertum im Libanon abzuschaffen und über die hälftige Teilung des Parlaments hinaus Mandate nicht mehr an die Zugehörigkeit zu einer Sekte zu knüpfen. Artikel 95 der libanesischen Verfassung beschreibt das Sekten-System seither als Übergangsstadium. Ein unabhängiger Nationalrat soll geformt werden, der das Parlament bei der Abschaffung des auch gesellschaftlich tief verankerten Systems berät. Jedoch knüpften die verschiedenen Milizen des Bürgerkriegs ihre Zustimmung zum Taif Abkommen auf politischer Ebene an eine zugesicherte Repräsentation im Parlament – die Einigung zur Abschaffung des Sektierertums trug also de facto zu dessen Festigung bei. Nicht verwunderlich scheint es also, dass es einen Nationalrat bis heute nicht gibt. Obwohl man sich vor mehr als 30 Jahren der Abschaffung des Sektierertums verschrieben hat, findet die Idee in der Mehrheit der Gesellschaft keinen Rückhalt. Was mit einer mündlichen Vereinbarung begonnen hat, ist heute längst in Gesetzen oder Gerichtsentscheidungen aufgegriffen und hat so passiv an Legitimität erlangt. Nunmehr unterliegt nicht nur das Parlament und das Ministerkabinett dem Sektensystem, sondern gleichsam fast alle Positionen des öffentlichen Dienstes, mitinbegriffen die zehn Richter*innen-Stellen am Verfassungsrat.
Resultat der Verbreitung des Sektierertums ist, dass die meisten Wähler*innen ihre Wahl auf Parteien ihrer Konfession beschränken. Dadurch beeinflussen Wahlversprechen oder Regierungsstil die Entscheidung oft erst zweitrangig. Das macht es für unabhängige Politiker*innen um so schwieriger, ins Parlament einzuziehen – auch wenn sie selbst keine religiöse Politik machen, führt der Weg ins Parlament über die Konfessions-Quoren.
Auch das zuletzt 2018 reformierte Wahlgesetz fußt auf der Logik des Sektierertums. Es teilt das Land in 15 Wahldistrikte. Jedem Distrikt steht eine gewisse Anzahl an Sitzen in verschiedenen Sekten des Parlaments zu. Auf diese wird sich als Abgeordneten-Kollektiv mit Listen beworben. Anhand der registrierten Wähler*innen in einem Distrikt und den zu Verfügung stehenden Sitzen wird bestimmt, wie viele Stimmen ein*e Kandidat*in benötigt, um sich gegen die Konkurrenz zu behaupten. Ein Mechanismus vergleichbar mit der deutschen Fünf-Prozent-Hürde. Hinzu kommt, dass durch das festgelegte Proporz die erforderlichen Stimmen der verschiedenen Listenplätze erheblich voneinander abweichen. So kommt es vor, dass in einigen Wahlbezirken ein*e Kandidat*in einer bestimmten Sekte bereits mit sehr wenigen hundert Stimmen ins Parlament einzieht, wohingegen in einem anderen Bezirk der*die gleiche Kandidat*in mehrere Tausend Stimmen erfordern würde.
Jedoch sind Konkordanzdemokratien nicht grundsätzlich schlecht. Die dahinterstehende Idee ist es, im Konsens zu handeln und Minderheiten aktiv in die Entscheidungsfindung miteinzubinden. Die strikten Quoren und komplizierten Kompromissfindungsprozesse sind direkter Ausfluss der festgeschriebenen Beteiligung aller.
Was die Situation im Libanon allerdings besonders macht, ist, dass heruntergebrochen auf die Religionszugehörigkeit der Bevölkerung, Christ*innen im Parlament überrepräsentiert sind. Aktuellen Schätzungen zur Folge beträgt der christliche Bevölkerungsanteil nur noch gut 35 Prozent – Tendenz sinkend. Die letzte offizielle Volkszählung war 1932. Dennoch: die Angst der Christ*innen, die mit einer Abschaffung oder Anpassung der Klausel einhergeht, künftigen Entscheidungen der sodann vermutlich muslimischen Parlamentsmehrheit unterlegen zu sein, scheint vor dem geopolitischen Hintergrund des Landes und der Region nachvollziehbar. Im Bürgerkrieg spielte religiöse Zugehörigkeit eine zentrale Rolle. Der Libanon ist geprägt von religiöser Diversität. Religion hat allgemein einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert. Würde man das Sektensystem jetzt abschaffen, gibt es Stimmen, die einen neuen Bürgerkrieg prophezeien.
Auch aus dem schlechten Verhältnis zu Israel erwächst für die Libanesen eine konkrete Gefahr. So gab es noch im Juli 2006 einen einmonatigen Krieg zwischen Israel und dem Libanon. Von den Kämpfen betroffen waren größtenteils die schiitisch geprägten Landesteile, mehr als 1600 Menschen starben, die meisten von ihnen waren Zivilist*innen. Zu Auseinandersetzungen mit dem Nachbarland kommt es andauernd. Der Guardian berichtete zuletzt von insgesamt 22.000 militärischen Überfliegungen Israels über libanesisches Gebiet in den letzten 15 Jahren. Im Februar 2022 flog ein israelischer Kampfjet im Tiefflug über Beirut, nachdem eine unbewaffnete Aufklärungsdrohne der Hisbollah über israelischem Gebiet gesichtet wurden war. Die ständige Angst vor Eskalation stellt für viele Libanes*innen eine große psychische Belastung dar. Nicht zuletzt liegt hierin der Grund, warum Kräfte wie die paramilitärische Gruppen Hisbollah und Amal so viel Zuspruch erhalten. Im Übrigen bringt auch das Taif Abkommen anhaltenden Frieden mit Israel mit der Abschaffung des Sektierertums in Verbindung.
In Syrien herrscht seit 2011 Krieg. Die Stabilität des Libanon wird durch den Konflikt im Nachbarland beeinflusst. Heute leben nach Angaben der libanesischen Regierung 1,5 Millionen Syrer*innen als Geflüchtete im Libanon. Neben den rund 300.000 palästinensischen Geflüchteten zählen sie zu den Menschen, die unmittelbar von neuen Gesetzen betroffen sind, aber nicht am demokratischen Prozess teilhaben können.
In Anbetracht der Gesamtsituation lässt sich wohl fast jede Position zum Sektierertum nachvollziehen. Je nach Lebensumständen sind die Realität und die damit einhergehenden Probleme und Ängste eine völlig andere.
Ernüchternd ist nur, dass der Libanon vereint schien. 2019 waren Hundertausende Menschen auf der Straße und haben Seite an Seite, unabhängig von der eigenen Sekte monatelang für das Gleiche gekämpft. Man wollte Veränderungen innerhalb der Reihen der Verantwortlichen. Dreizehn unabhängige reformorientierte Kandidat*innen sind zwar ein Schritt nach vorne, doch scheint dieser verglichen mit dem zivilen Ungehorsam der letzten drei Jahre ernüchternd klein. Aktuell gilt es erstmal, eine neue Regierung zu formen. Das neue Kräfteverhältnis sorgt für Unsicherheit. Noch-Präsident Aoun (FPM) hat angekündigt, im November für das Präsidentschaftsmandat nicht noch einmal kandidieren zu wollen. Auch das trägt zu einer allgemeinen Ungewissheit bei.
Dass auch alle politischen Diskussionen im Libanon mit der Floskel: „Welcome to Lebanon“ beendet werden, löst nach bei mir nach meiner Zeit hier zweierlei aus: Zum einen Frustration, da es stellvertretend dafür steht, dass Veränderung kaum möglich ist – im Libanon ist das halt so. Zum anderen habe ich aber auch verstanden, dass das System für viele irgendwo auch funktioniert. Lokale Strukturen wie Familienverbände, politische Vereine und Religionsgemeinschaften sind nicht zuletzt wegen des Sektierertums deutlich stärker ausgeprägt als zum Beispiel in Deutschland und ersetzen so nichtexistierende oder nicht funktionierende staatliche Strukturen. Die libanesische Diaspora und Expats bringen Fresh Dollars ins Land und fungieren so als schwacher Gegenpol zur anhaltenden Wirtschaftskriese. Das Equilibrium ist sehr fragil. Aber solange externe Shocks dieses nicht aus dem Gleichgewicht bringen, wird der Libanon nicht kollabieren. Welcome to Lebanon!