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Wie selbstbestimmt können wir sterben?

Leben und Freiheit stehen im direkten Kontrast zueinander, wenn es um das Thema Suizidhilfe geht. Wie sind Tod und Freiheit miteinander vereinbar? Ist es möglich, das Leben als höchstes Gut zu schützen, wenn frei über den eigenen Tod entschieden werden darf? Ist die Entkriminalisierung von Beihilfe zum Suizid zu rechtfertigen?


Zur Beleuchtung dieser kontroversen Debatte sind verschiedene Blickwinkel nötig. Ein Schwarz-Weiß-Denken ist trügerisch. In diesem Kommentar wird daher keine eindeutige Meinung vertreten. Er dient vielmehr als Anregung, Sichtweisen auf das Thema der Suizidhilfe zu hinterfragen. Es ist eine Debatte, die jeden betrifft. Jeder muss sterben – nur einmal. Daher ist relevant, wie wir das tun.


von Victoria von Rheinbaben


© Antonia Hinterdobler


Das Bundesverfassungsgericht sprach sich im Februar 2020 für das Recht auf Suizidhilfe aus. Damit wurde der 2015 in Kraft getretene Paragraf 217 des Strafgesetzbuchs als verfassungswidrig und nichtig erklärt. Dieser legte fest, dass die geschäftsmäßige Suizidhilfe mit Freiheitsstrafe oder Geldstrafe geahndet wird. Suizidhilfe bedeutet die Hilfeleistung zur Selbsttötung durch die Beschaffung und Bereitstellung eines tödlichen Mittels. Sie ist dadurch abgegrenzt von passiver (Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen), indirekter (schmerzlindernde Behandlung unter Inkaufnahme eines Lebensverkürzungsrisikos) und aktiver (absichtliche Beschleunigung oder Herbeiführung des Todeseintritts) Sterbehilfe.

Die Karlsruher Richter*innen begründeten ihre Entscheidung mit dem Argument, dass der Paragraf 217 gegen das Persönlichkeitsrecht für die autonome Freiheit zu sterben spricht. Seitdem wird Suizidhilfe in Deutschland nicht mehr bestraft. Auch die Berufspflicht von Ärzt*innen wurde im Mai 2021 reformiert: Die Beihilfe zum Suizid widerspricht nun nicht mehr der ärztlichen Berufspflicht.


Um zu verstehen, wie Suizidhilfe vonstatten geht, dient der größte Schweizer Sterbehilfeverein EXIT als Beispiel: Nach einem Beitritt zu Lebzeiten und der Zahlung von Mitgliedsbeiträgen, kann man dort bei Todeswunsch eine Freitodbegleitung beantragen. Diese kann dann nach ärztlicher Prüfung der Urteilsfähigkeit und Autonomie der Patient*innen sowie der Überprüfung der Wohlerwogenheit einer hinreichenden, der Dauer des Sterbewunsches, einer ärztlichen Diagnose sowie einem Beratungsgespräch durchgeführt werden. Fest steht, nur Menschen mit hoffnungslosen Prognosen, unerträglichen Beschwerden und unzumutbaren Behinderungen darf Suizidhilfe gewährt werden. Zunächst erscheint dies, als könnten in der Entscheidung über Leben und Tod von Patient*innen mit Sterbewunsch keine Fehler unterlaufen. Doch ist das so? Sind diese vermeintlich strikten Voraussetzungen fair? Und wenn sie es sind, wer ist würdig, diese korrekt zu prüfen und über Leben und Tod zu richten?


Viele verschiedene Akteure*innen der Medizin, Psychologie, Philosophie, des Rechts und der Kirche bringen sich in diese Debatte ein – ebenso wie Betroffene selbst. Eines der am häufigsten diskutierten Argumente ist die mögliche Entstehung eines gesellschaftlichen Drucks durch eine Entkriminalisierung von Suizidhilfe: Was könnte eine Entkriminalisierung von Suizidhilfe für Menschen mit Behinderungen oder Menschen hohen Alters bedeuten, die das Gefühl haben, anderen zur Last zu fallen und somit keinen Sinn mehr in der Weiterführung ihres Lebens sehen? Die Möglichkeit, einen begleiteten Freitod in Anspruch zu nehmen, könnte als Druck oder gar eine gesellschaftliche Erwartung wahrgenommen werden. Zwar soll die autonome Entscheidung zum Freitod ohne die Beeinflussung von Dritten abgesichert werden – doch wie sicher kann man sich einer solchen Prüfung sein? Es ist nie vollends ersichtlich, was im Kopf des Suizidwilligen oder hinter dessen Haustür passiert.


Dem gegenüber steht das Persönlichkeitsrecht. Die Karlsruher Richter*innen, die den Paragrafen 217 abschafften, argumentierten, dass aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (GG) auch das Recht auf selbstbestimmtes Sterben entnommen werden kann, und zwar unabhängig vom Alter und Gesundheitszustand, von besonderen Motiven oder moralischen oder religiösen Erwägungen. Auch das Recht auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen sei eingeschlossen. Nach diesem Argument müsste demnach sogar Menschen, die aus extrinsischer Motivation ihren Freitod beanspruchen, die Suizidhilfe gewährleistet werden.

Bedeutet unabhängig vom Alter, dass auch Kinder diesen Anspruch stellen dürfen – und zwar unabhängig von ihrem Gesundheitszustand? Wie könnte man nach einer derart groben Regelung kontrollieren, wem Suizidhilfe zusteht und wem nicht, wenn sie doch allen, zu jeder Zeit, aus jedem Grund gewährleistet werden soll? Gleichzeitig widerspricht dies jedoch den oben benannten, strikten Richtlinien, die die Bedingungen zur Gewährleistung von Suizidhilfe festlegen. Hier wird deutlich, wie schwierig oder gar unmöglich es ist, ein richtiges Urteil zu fällen, wenn die Normen so grundlegend divergieren.


Warum sollte es grundsätzlich jemandem zustehen, darüber zu bestimmen, ob ein anderer Mensch sterben darf oder nicht? Ist es nicht genug, dass die Geburt ohne Selbstbestimmung eintritt? Einige Stimmen entgegnen dieser Forderung, dass die Entkriminalisierung von Suizidhilfe nicht nötig sei, da jeder Mensch die Freiheit hat, sich durch Medikamente oder sonstige Hilfsmittel selbstbestimmt das Leben zu nehmen, ohne dabei eine zweite Person zur Hilfe ziehen zu müssen. Ein hoher Prozentsatz an Suizidversuchen scheitert jedoch oder führt zur Verletzung Dritter. In solchen Fällen, wird argumentiert, stelle die Beihilfe zum Suizid eine schützende Funktion für das Selbst und andere dar. Makaber ist hierbei zweierlei. Erstens, dass sich die sogenannte schützende Funktion darauf bezieht, dass man sicherstellt, dass ein Mensch zu hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit tot sein wird. Auf der anderen Seite ist jedoch ebenso makaber, dass sich Menschen bei Selbstmordversuchen unerträglichen Qualen aussetzen oder ihre Versuche scheitern und ihre Lage dadurch weiter belastet wird. Die Karlsruher Richter*innen empfanden letzteres Szenario als schwerwiegender.


Die Entkriminalisierung von Suizidhilfe ist auch deswegen umstritten, da ungeklärt ist, ob die Legalisierung zu Suizidprävention oder zu mehr Suiziden anregt. Zwar ist die Suizidrate in der Schweiz nach der Gründung des Sterbehilfevereins EXIT gesunken. Die alleinige Korrelation ist jedoch nicht ausreichend, als dass sie den Weg zu einer Normalisierung von Suizidhilfe in Deutschland ebnen sollte. In der Realität sieht es, insbesondere nach der Aufhebung der ärztlichen Berufsordnung zum Verbot der Suizidhilfe, anders aus: Suizidhilfe wird ein Bestandteil unserer Gesellschaft sein. Dies ist angemessen, solange es den richtigen Menschen zukommt. Doch wer diese richtigen Menschen sind und wer die richtige Person ist, darüber zu entscheiden, bleibt unklar. Das Einzige was in dieser zweispaltigen Debatte bleibt ist die Hoffnung. Die Hoffnung darauf, dass der Prozentsatz an richtigen Menschen, die von der Suizidhilfe Gebrauch machen können, größer ist als der Anteil an Menschen, die durch die Entkriminalisierung von Suizidhilfe überhaupt erst dazu verleitet werden, einen Freitod in Betracht zu ziehen. Ob Hoffnung allein am Ende ausreicht, den sensiblen Bereich zwischen Leben und Tod ordnungsgemäß zu entzerren, bleibt jedoch zweifelhaft.


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