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Wohnungslos, obdachlos, unsichtbar

„Wir setzen uns zum Ziel, bis 2030 Obdach- und Wohnungslosigkeit zu überwinden,“ so der lobenswerte Plan der Bundesregierung, wie auch der Bundesländer und der EU. Bislang wurde ins Visier genommen, den Wohnraum auszubauen und das Mietrecht zu reformieren. Der Fokus auf den Wohnraum allein verkennt jedoch die gesamtgesellschaftlichen Probleme, die mit der Obdachlosigkeit zusammenhängen. Es ist daher höchste Zeit für mehr politischen Handlungswillen, der nicht davor zurückschreckt, die unbequemen Fragen mitzudenken: Was sind die Hauptursachen der Obdachlosigkeit? Welche (politischen) Fehlentscheidungen und Versäumnisse tragen zu ihrer Entstehung bei? Und wie können wir den tatsächlichen Bedürfnissen obdachloser Menschen gerecht werden?


von Caroline Montag und Clara Coen


© Lea Donner

256.000 wohnungslose Menschen

In Berlin, oft auch die Hauptstadt der Obdachlosigkeit genannt, wurden während der ersten stadtweiten Zählung im Jahr 2020 etwa 2.000 obdachlose Menschen erfasst, wobei die Dunkelziffer wohl viel höher ist. Daneben gibt es auch wohnungslose Menschen, die sich von ersterer Gruppe dadurch unterscheiden, dass sie zumindest eine vorübergehende Unterkunft haben (insbesondere durch Übernachtungen bei Freunden, Familie, beim Partner oder für Sexarbeiter:innen beim Freier). In Deutschland gibt es nach aktuellen Schätzungen des BAG Wohnungslosenhilfe e.V. rund 256.000 wohnungslose Menschen (2019). Insbesondere Frauen sind oftmals eher wohnungslos als obdachlos, auch wenn dies bedeuten kann, häuslicher Gewalt ausgesetzt zu sein. Wenn wir das Problem der Obdachlosigkeit angehen und verhindern wollen, müssen wir wohnungslose Menschen immer mitdenken, da sie in besonderem Maße von Obdachlosigkeit bedroht sind.

Der Fokus auf individuenzentrierte Ursachen

Die Ursachen der Obdachlosigkeit sind mannigfaltig und schwer, erschöpfend zu erfassen. Wie Sandra Wolf, studierte Diplom-Geographin, und Stefan Kunz, Geschäftsführer der Katholischen Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, in ihrer Recherche kritisieren, sind Erklärungsansätze verbreitet, die einseitig an der Psychologie ansetzen: Danach sind kritische Lebensereignisse, wie zum Beispiel ein Jobverlust oder eine Trennung, der Ausgangspunkt für negative Kettenreaktionen, die dann oftmals über Schulden und dysfunktionalen Kompensationsverhalten (Alkoholmissbrauch usw.) in die Obdachlosigkeit führen. Nach dieser “Life Event Hypothese” ist obdachlos zu werden ein schleichender Prozess, in dem die einzelne Person im Mittelpunkt steht und durch Fehlentscheidungen verschiedenster Art die alleinige Verantwortung für ihr Schicksal trägt.

Oftmals werden psychische Störungen und Suchtabhängigkeiten als Ursachen in den Mittelpunkt gestellt (“sick-talk”) und obdachlosen Menschen damit zumindest indirekt die Schuld für ihre Situation zugeschoben (“sin-talk”). Dies beeinflusst die Grundhaltung vieler Personen obdachlosen Menschen gegenüber: Statt Empathie und Verständnis aufzubringen, ist diese von Abwertung und Entsolidarisierung geprägt. Ganz nach dem zynischen Motto „in Deutschland muss kein Mensch obdachlos sein, wenn er sich nur halbwegs bemüht“. Dies trifft leider nicht zu. Zwar gibt es in Deutschland sozialen Wohnraum und staatliche Unterstützung, gleichzeitig aber auch etliche Hürden, nicht nur administrativer und rechtlicher Art, die viele Menschen durch das Raster fallen lassen. Der individuenzentrierte Diskurs ignoriert auch vollkommen, dass viele auf die Person bezogene Probleme meist durch systembedingte Faktoren entstehen. Deshalb müssen wir die Obdachlosigkeit insbesondere aus einer systemischen Perspektive angehen.

Unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen

Ein wichtiger Gesichtspunkt dabei ist, dass die rechtliche Situation obdachloser Menschen durchaus sehr unterschiedlich ausfällt. Zwischen ihnen muss man schon deshalb differenzieren, weil die verschiedenen Gründe und Ursachen für Obdachlosigkeit auch unterschiedliche Ebenen der Vulnerabilität bedeuten können.

So haben beispielsweise obdachlose Deutsche, die oft jeglichen Kontakt zu Familie und Bekannten verloren haben, grundsätzlich Anspruch auf staatliche Leistungen beziehungsweise ein eigenes Einkommen. Zu dieser Gruppe können auch Drittstaatsangehörige dazugezählt werden, die, weil sie lang genug in Deutschland gearbeitet haben oder einen Schutzstatus genießen, auch Sozialleistungen beziehen können.


Im Vergleich dazu sind Menschen vulnerabler, die zwar ein Aufenthaltsrecht in Deutschland haben, aber kein Recht auf staatliche Leistungen. Diese Gruppe nimmt zahlenmäßig stark zu. Sie kommen überwiegend aus süd- und insbesondere osteuropäischen EU-Staaten. Auch wenn sie rein theoretisch in Deutschland arbeiten könnten, ist dies faktisch oft schwierig. Unter derartigen Bedingungen eine Wohnung zu finanzieren, ist angesichts des Mangels an bezahlbarem Wohnraum so gut wie unmöglich.

Am vulnerabelsten sind obdachlose Menschen, die sich irregulär in Deutschland aufhalten: Sie haben keinen Aufenthaltstitel und ihnen droht die Abschiebung. Viele von ihnen müssen sich den Behörden entziehen, um in Deutschland bleiben zu können. Den Aufenthalt für diese Menschen zu legalisieren ist schwer möglich, und so ist ihnen auch der Arbeitsmarkt aus rechtlichen Gründen unzugänglich, wenn auch viele von ihnen gerne arbeiten würden. Hier bestehen die schlechtesten Aussichten, nicht in die Obdachlosigkeit zu rutschen und bei deren Eintritt das höchste Risiko, nicht mehr aus ihr rauszukommen.

Und gleichwohl kann es jede:n treffen


Aber auch Menschen, die grundsätzlich ein Einkommen beziehen oder einen Anspruch auf staatliche Leistungen haben, können in Deutschland obdachlos werden. So sind viele aus finanzieller Not heraus nicht mehr in der Lage, ihre Miete zu bezahlen und werden so obdachlos. Es liegt aber meist nicht an individueller finanzieller Fehlplanung, sondern an zu niedrigen Einkommen und Renten, der Teilzeitarbeit (insbesondere bei Frauen), unzureichenden Beschäftigungsmöglichkeiten für Geringqualifizierte oder zu niedrigen Sozialleistungen. Dazu kommen steigende Wohnungspreise und allgemein fehlender bezahlbarer Wohnraum. Dies hat sogar zur Folge, dass eine stetig steigende Anzahl an Familien ihre Wohnung verlieren. Die „Turbogentrifizierung“ in manchen Großstädten tut ihr Übriges.


Ein weiteres Problem, das besonders viele Frauen betrifft, ist, dass oftmals nur ihr Partner im Mietvertrag steht oder aber sie finanziell von ihrem Partner abhängig sind. Insofern kann auch eine Trennung vom Partner weitreichende finanzielle Krisen hervorrufen und unter anderem auch zum Wohnungsverlust führen.

Um dem entgegenzuwirken ist es wichtig, dass Menschen ein existenzsicherndes Einkommen oder aber entsprechende Sozialleistungen bekommen. Mindestens so wichtig ist es, die hierfür erforderlichen Behördengänge zugänglicher zu machen, bürokratische Hürden zu senken und die sozialpädagogische Unterstützung in schwierigen Lebenslagen wirksam auszubauen.


Psychische Erkrankungen bedürfen mehr Aufmerksamkeit

Bei manchen Menschen führen anhaltende psychische Belastungen dazu, dass sie obdachlos werden. Dies liegt aber nicht an einer irgendwie gearteten „Charakterschwäche“, sondern vielfach an krisenhaften Erlebnissen und Grenzerfahrungen der Betroffenen und daran, dass wir als Sozialgemeinschaft nicht ausreichend psychologische Unterstützung anbieten. Dadurch können Menschen schnell durch das System fallen, wenn sie nicht im Sinne der Leistungsgesellschaft „funktionieren“. Es sollte unsere gesellschaftliche Pflicht sein, in bestmöglicher Weise Unterstützung zugänglich zu machen, unter anderem durch ein ausreichendes Angebot an sozialpädagogischer und psychologischer Unterstützung. Zudem muss der Gesetzgeber Zwangsräumungen wegen unbezahlter Miete, insbesondere im Falle psychischer Erkrankung, ausschließen.

Darüber hinaus sollten auch die Ursachen psychischer Störungen nicht außer Acht gelassen werden. Insbesondere frühe negative Erfahrungen mit Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung und Ähnlichem erhöhen das Risiko lebenslanger sozialer und gesundheitlicher Probleme in hohem Maße, die ohne Unterstützung von außen oftmals zu weiteren (Folge-)Krisen führen. Auch deshalb bedarf es stärkerer Unterstützung, bestmöglich schon im Kindesalter. Insbesondere Schulen könnten dahingehend verstärkt präventiv tätig werden.

Um obdachlosen Menschen wieder eine Perspektive zu geben, müssen ihre unmittelbaren Bedürfnisse gedeckt werden. Dazu gehören neben einer Wohnung auch eine materielle Grundzuordnung, d.h. Zugang zu Arbeit, eine gesundheitliche Grundversorgung und psychosoziale Unterstützung. Dies beinhaltet auch eine effektive Schuldenberatung oder aber einen entsprechenden Erlass, um aus der Abwärtsspirale finanzieller Probleme auszusteigen. Oftmals sind Schulden und damit zusammenhängende Schufaauskünfte der alleinige Grund, keine Wohnung zu finden.

Es braucht ein ganzes System, eine umfassende Perspektive


Die Ziele auf Unions-, Bundes- und Länderebene sind zu begrüßen, wobei sie sich noch zu stark auf den Wohnraum fokussieren. Wohnraum und die Reform des Mietrechts sind wichtig, aber wenn die Beendigung der Obdachlosigkeit bis 2030 keine leere Floskel bleiben soll, kann dies nicht genügen. Die Obdachlosigkeit ist das Ergebnis zahlreicher, oftmals eng miteinander verwobener Ursachen. Aus diesem Grund bedarf es eines holistischen Ansatzes. Es braucht ein ganzes System, eine umfassende Perspektive, die Hilfe zur Selbsthilfe gibt, und die es obdachlosen Menschen erlaubt, wieder oder erstmals ein Teil unserer Gesellschaft zu werden.


Wir müssen ein System schaffen, dass die unterschiedlichen Gründe für Obdachlosigkeit an der Wurzel packt, unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Bedürfnisse: Um eine Obdachlosigkeit wegen eines fehlenden Aufenthaltstitels zu vermeiden, muss unser Aufenthaltsrecht reformiert werden. Zudem muss unser Arbeitsmarkt zugänglicher werden und Menschen brauchen ein Existenzminimum, das ihnen Teilhabe ermöglicht. Auch spielt der effektive Zugang zu sozialpädagogischer und therapeutischer Unterstützung eine wichtige Rolle. Nur so kann sichergestellt werden, dass Menschen durch eine deutliche Verbesserung der Rahmenbedingungen vor und während der Obdach- und Wohnungslosigkeit geschützt werden und ihnen in jeder Phase angemessene Hilfe wirksam und bedarfsgerecht zuteil wird, um ihre Situation nachhaltig zu verändern.



Dieser Artikel stammt aus unserer aktuellen Printausgabe "Zugehörigkeit und Fremde", die ihr hier bestellen könnt.




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